Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die Unselbstverständlichkeit des Gesprächs

Das Interview als Projekt und Gegenstand von Dokumentarfilmen

Prof. Dr. Stefanie Diekmann

Abstract

Das Interview, die Bedingungen seines Zustandekommens, die Widerstände und Konflikte, die seiner Realisierung entgegen stehen, sowie sein potenzielles Scheitern sind das Sujet der Dokumentarfilme, die für das vorliegende Projekt ausgewählt worden sind.
Im Fokus der Untersuchung dieser Filme stehen dabei Prozesse der Anbahnung und Adressierung, die Aushandlung von Rollenentwürfen und -aufteilungen sowie die Interdependenz von identitären Zuschreibungen, die nicht allein die intendierten Interviewpartner und die Interviewer involvieren, sondern ebenso deren wechselnde ‚Komplizen’ und nicht zuletzt die Filmzuschauer, denen je spezifische Perspektiven auf die Akteure nahe gelegt werden.

Das Projekt „Die Unselbstverständlichkeit des Gesprächs“ befasst sich mit Dokumentarfilmen aus den letzten drei Jahrzehnten, deren zentraler Gegenstand das Interview als Projekt und Prozess ist. Anstatt Interviews ‚wie selbstverständlich’ vor der Kamera stattfinden zu lassen, richten die ausgewählten Filme – von Michael Moores Roger and Me (USA 1989) bis Gerd Kroskes Striche ziehen (D 2015) – den Blick auf Szenarien der Adressierung, Aushandlung und immer wieder auch des Scheiterns, in denen das dokumentarische Interview als ein prekäres, von Entzugs- und Ausweichbewegungen bestimmtes Unternehmen erkennbar wird.

Zu den zentralen Themen des Forschungsfeldes A „Identifikation und Identitätspolitik“, des Exzellenzclusters steht das Projekt in zweierlei Hinsicht in enger Verbindung. Zum einen untersucht es Filme, die sehr konkret und teils sehr unterhaltsam davon handeln, dass die Integration von intendierten Gesprächspartnern in ein (filmisches) Narrativ alles andere als einfach – und bisweilen überhaupt nicht – zu bewerkstelligen ist. In den Blick rücken damit auch die Produktionsbedingungen filmischer Dokumentation und deren Abhängigkeit von Prozessen der Adressierung, Konsensbildung und Autorisierung, der Rollenaufteilung und der identitären Zuschreibung.

Zum anderen richtet das Projekt den Blick auf filmisch dokumentierte Gespräche, in denen es zwar gelungen ist, die intendierten Gesprächspartner vor die Kamera zu bekommen, aber nur um den Preis der Erkenntnis, dass Rollenverständnis, identitäre (Selbst-)Zuschreibung und diskursive Produktion der InterviewerInnen und der Interviewten nicht miteinander zu vermitteln sind, eine Integration der verschiedenen Perspektiven innerhalb des Films folglich nicht in Aussicht gestellt werden kann. Die Tatsache, dass viele dieser Dokumentarfilme in Familienkonstellationen entstehen, führt zudem zu einer Multiplikation und Kopräsenz von Identitätsangeboten und -formationen, in der sich die Positionen der Akteure immer wieder destabilisieren.

Zugleich ist zu beobachten, dass die FilmemacherInnen in der Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten des jeweiligen Interview-Projekts kreative Strategien entwickeln, die von den Parametern der Improvisation, der Abschweifung, der Ersetzung und der Bricolage gekennzeichnet und als Indikatoren eines erweiterten Konzepts dokumentarischer Praxis zu betrachten sind. Unter Beobachtung stehen daher allen Filmen auch die Operationen der FilmemacherInnen selbst und ihre Rolle in der Herstellung, Sicherung und Ausgestaltung der Interview-Situation.

Gegenüber einer funktionalen Darstellungsweise, die nicht mehr erkennen lässt, von welchen Prozessen und Aushandlungen ein bestimmtes Interview grundiert ist, nehmen die Filme, die für das Projekt ausgewählt wurden, eine andere Perspektive ein, insofern sie primär als Dokumente ihrer eigenen Entstehung zu betrachten sind und eben jene Aushandlungen und Widerstände zum Inhalt haben, mit denen sich die FilmemacherInnen bei der Realisierung des jeweiligen Interview-Projekts konfrontiert sehen.

Das Spektrum der dokumentierten Entzugsbewegungen reicht dabei von der Weigerung der intendierten Protagonisten, sich dem dokumentarischen Projekt überhaupt zur Verfügung zu stellen (Status quo in Michael Moores Roger and Me und Nick Broomfields The Leader, His Driver and the Driver’s Wife), bis zu widerständigem Gesprächsverhaltens im Spektrum von Widerspruch (Michael Apted, Seven Up, Ross McElwee, Photographic Memory), formelhafter Rede (Anja Salomonowitz, Das wirst du nie verstehen, Jens Malte Ludin, Zwei oder drei Dinge, die ich über ihn weiss), Wutanfällen (Pary El-Qualqili, Schildkrötenwut) oder permanenter Infragestellung des Projekts (Alan Berliner, Nobody’s Business). Um die Prozesse der Aushandlung und die Rollenaufteilungen und -verschiebungen, die sich unter diesen Bedingungen entwickeln,  genauer zu untersuchen, sind die Filme bis auf Weiteres in zwei Korpora eingeteilt worden.

  • Filme, in denen die Filmemacher vorrangig damit befasst sind, eine Interviewsituation überhaupt herzustellen oder mit der Abwesenheit von Interviewpartnern umzugehen.
  • Filme, in denen die Interviewsituation zum Schauplatz von Aushandlungen und Konflikten wird.