Lévy-Bruhls Umwertung der Partizipation
Zur Faszinationsgeschichte von Nicht-Modernität
Abstract
Von kultur- und medienwissenschaftlicher Seite wurde der Wert von Lévy-Bruhls Teilhabebegriff für die Lektüre prä- und postalphabetischer Gesellschaften bislang nur in Ansätzen exploriert. Dabei muss Lévy-Bruhls anthropologisch-philosophisches Werk überhaupt als ein, vielleicht als das Schlüsselwerk für das Wiedererscheinen des Teilhabe-Begriffs im 20. Jahrhundert begriffen werden, dessen ganze Virulenz für die Beschreibung unserer gegenwärtigen Lage nicht erfasst ist. Insbesondere seine im Kontext einer Hermeneutik animistisch-mystischer Praktiken entworfene Ontologie der Partizipation, die Teilhabe als fundamentale affektive Kategorie begreift, wurde bis heute weder streng entwickelt noch ausreichend wissens- und mediengeschichtlich kontextualisiert.
Dasselbe gilt für den von Lévy-Bruhl veranschlagten Begriff einer partizipativen Erfahrung, die noch der Differenz von Individuum und Kollektiv vorausgeht. Dessen Valenz für das Verständnis von Sinn- und Erfahrungsbildung im Rahmen unserer durch medientechnologische Distribuiertheit charakterisierte Affektivität ist unbefragt. Mit einem Wort: Der ganze konzeptionelle Reichtum von Lévy-Bruhls Arbeit für die so dringliche Neubestimmung von Sinn- und Erfahrungsbildung unter der technologischen Bedingung ist weitgehend uneingesehen.
Lévy-Bruhl fasst Teilhabe jenseits von Nachahmung als eine ursprüngliche, primordiale, unhintergehbare Beziehung auf, die den Termen der Beziehung vorhergehen. Dabei verkörpert er nicht bloß den – wie Erhard Schüttpelz schreibt – „wiederkehrende(n) Wunsch der Philosophen“ nach „amodernen Alternativen“, der immer auch, wie wir heute mehr denn je wissen, mit einer diffusen Beschwörung multipler Handlungs- und Wirkmächte einhergeht. In den materialreichen Details seiner Untersuchungen, aus denen er sein Konzept destilliert, erweist er sich gerade auch als zentraler Vordenker einer künftigen Theorie medialer Teilhabe, die von konkreten medialen Fügungen Rechenschaft abzulegen intendiert.
Lévy-Bruhl ist dabei nicht nur für das Verständnis von deren Archäologie unabdingbar, sondern darüber hinaus sind auch mögliche Einschreibungen der gegenständlichen Begriffsrevisionen in zeitgenössische Figurationen des Teilhabedenkens zu verfolgen (etwa in Jean-Luc Nancys Denken der Mit-Teilung und des Bezugs, Bernard Stieglers Pharmakologie der Partizipation und sein Konzept der Transdindividuation, in Gilles Deleuzes Immanzdenken oder etwa in Tim Ingolds Ökoanthropologie der Partizipation).
Schließlich wird Lévy-Bruhls archäologische Schlüsselposition aber noch durch einen weiteren Einsatzpunkt markiert: Wenn wir heute tief in einer Faszinationsgeschichte von Nicht-Modernität stecken, ja diese nachgerade zu einer Signatur unserer zeitgenössischen Theorie- und Begriffspolitik geworden ist, wie sie insbesondere auch die Arbeit an der eben dezidiert nicht- bzw. nachmodernen Neufassung von medialer Teilhabe und von Gemeinschaft kennzeichnet, so markiert Lévy-Bruhl einen ihrer immer noch unbegriffenen Anbruchspunkte.
Der Rückgang zu ihm ist auch für das Verständnis dieser hervorstechenden faszinationsgeschichtlichen Lagerung unumgänglich. Dabei leistet die von Lévy-Bruhl an der Sorbonne zelebrierte Descartes-Lektüre, die ihn zunächst berühmt machte, eine grundsätzliche Konzeptualisierung der Moderne, gegen die am Ende seine ganze Beschäftigung mit dem wilden Denken und seine ausufernde Arbeit an der philosophischen Revision der Moderne angegangen sein wird. Sie stellt nicht nur eine der großen Quellen der Faszination mit Nicht-Modernität dar, die das 20. und frühe 21. Jahrhundert prägt, sondern darüber hinaus ist diese Faszination auch originär mit der radikalisierenden Wiedervorlage der Partizipationsfrage verbunden und stellt vielleicht sogar einen ihrer Hauptkontext dar.
Damit ist die Umwertung von Partizipation im 20. und 21. Jahrhundert von Anfang tief in die Faszinationsgeschichte von Nicht-Modernität getaucht. Genauso wie Heideggers wirkmächtiger Einspruch gegen das Vorstellungsdenken und das Gestell, der dessen Modernekritik pointiert, operiert auch Lévy-Bruhls Kritik der Repräsentation und seine gegenstrebige Arbeit an einem dezidiert anti-kartesianischen partizipativen Bild des Denkens genau über die Platzierung und Erfindung von Descartes als Zentralfigur dessen, was als modernes Bild des Denkens beschrieben werden kann und mit dem es zu brechen gilt.
Dieses Schlüsselkapitel einer faszinationsgeschichtlichen Bestimmung unserer Gegenwart ist bis dato ungeschrieben. Dazu ist nach der Rekonstruktion von Lévy-Bruhls Descartes die Relektüre der anthropologisch-philosophischen Arbeiten Lévy-Bruhls zu unternehmen, insbesondere der posthum veröffentlichten Cahiers. Der Fokus liegt auf der Einführung und genauen Entfaltung des Partizipationsbegriffs im Werk, auf Lévy-Bruhls Überlegungen zu einer spezifischen Zeitlichkeit der Partizipation (Bi-Präsenz, Multi-Präsenz), schließlich auf das, was man die Genese eines neuen nicht-repräsentativen Bildes des Denkens nennen könnte, das sich bei Lévy-Bruhl ereignet und das bislang noch nicht präzise beschrieben ist.
Dazu gilt es auch die Affekttheorie, die Konzeption von Handlungs- und Wirkmacht, einer entsprechend amodernen, nicht-repräsentativen Erfahrungs- und Subjektkonstitution, schließlich auf die Ansetzung von Umweltlichkeit und die genaue Verfasstheit des Kollektivs herauszuarbeiten, die Lévy-Bruhls neuer Metaphysik der Partizipation Konsistenz verleihen.