Abstract
Am 1. November 1700 starb der spanische König Karl II., dessen Thronfolge sowohl Kaiser Leopold als auch König Ludwig XIV. für ihre jeweilige Dynastie beanspruchten. Spätestens mit diesem, von den politischen Akteuren in ganz Europa lange erwarteten Ereignis, wechselte die latente Kriegserwartung zur offenen Vorkriegszeit des Spanischen Erbfolgekriegs (1701–1714). Diese spannungsgeladene Situation, mit der die Schlussphase der Regierungszeit Ludwigs XIV. eingeleitet wurde, lenkt den Blick auf zwei Probleme, die das Projekt in ihrer engen Verschränkung behandelt:
Erstens wird thematisiert, auf welche Weise Krieg und kriegerische Auseinandersetzungen bei unterschiedlichen Akteuren in der französischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts artikuliert wurden. Es wird davon ausgegangen, dass Kriege für viele Akteure einschneidende, Handlungsroutinen verändernde „Ereignisse“ sind. Um ihre Konstruktion zu analysieren, wird der Fokus auf die Vorkriegssituationen gelegt, in denen, so die leitende These, Erwartungen artikuliert und dadurch realitätsformend werden.
Somit werden zweitens die für die jeweiligen Akteure handlungsleitenden Temporalitäten, die „Historizitätsregimes“, erschlossen. Das Projekt konkretisiert dabei die anthropologischen Kategorien Reinhart Kosellecks, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ und analysiert ihre immanente Dynamik und Prozessualität.
Diese Kombination zweier Problembereiche erfordert es, sich neuerlich mit dem Begriff des Ereignisses zu befassen, das als (narrative) medial gebundene Konstruktion aus dem Handeln der Akteure begriffen wird. Gefragt wird nach den Möglichkeiten der Akteure, Erwartungen in zukunftsgestaltendes Handeln zu verwandeln.
Als ein chronologisches, aber viel mehr noch als ein konzeptionelles Gegenüber zum Tod des spanischen Königs 90 Jahre später dient dabei die Situation nach der Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. (1610) als Untersuchungsobjekt: Mit seinem Tod als einem plötzlichen Ereignis brach eine Kriegserwartung ab und es werden andere Erwartungshorizonte sichtbar. Hier setzt das Projekt an und untersucht das Verhältnis zwischen der Wahrnehmung einer Zukunftsoffenheit, die kalkuliert werden kann, und der Vorstellung einer prädestinierten Schicksalserfüllung, die sich in einer zeichenerfüllten Welt zu orientieren sucht. Es zielt zugleich darauf, wie weit die vor allem soziale Begrenzung und Kontrolle des Wissens und somit der Erwartungen an die Zukunft gelingen kann – oder ob durch Erwartungshandlungen in einer Art self-fulfilling prophecy gegen jede kontrollierte Gestaltung die Zukunft verändert wird.