Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Vor dem Krieg

Erwartungshandeln im Frankreich des 17. Jahrhunderts

Dr. Albert Schirrmeister

Abstract

Die Zeit vor dem spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) und die Krise um die Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg (1609–1611) – Anhand dieser beiden Situationen der europäischen Geschichte des 17. Jahrhunderts wird die historisch-anthropologische Frage diskutiert, inwiefern im Zusammenspiel von Erfahrung und Erwartung von Kriegssituationen das Handeln von Akteuren und ihre Zukunft verändert werden.

Am 1. November 1700 starb der spanische König Karl II., dessen Thronfolge sowohl Kaiser Leopold als auch König Ludwig XIV. für ihre jeweilige Dynastie beanspruchten. Spätestens mit diesem, von den politischen Akteuren in ganz Europa lange erwarteten Ereignis, wechselte die latente Kriegserwartung zur offenen Vorkriegszeit des Spanischen Erbfolge­kriegs (1701–1714). Diese spannungsgeladene Situation, mit der die Schlussphase der Regierungszeit Ludwigs XIV. eingeleitet wurde, lenkt den Blick auf zwei Probleme, die das Projekt in ihrer engen Verschränkung behandelt:

Erstens wird thematisiert, auf welche Weise Krieg und kriegerische Auseinandersetzungen bei unterschiedlichen Akteuren in der franzö­sischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts artikuliert wurden. Es wird davon aus­gegangen, dass Kriege für viele Akteure einschneidende, Handlungsroutinen verändernde „Ereignisse“ sind. Um ihre Konstruktion zu analysieren, wird der Fokus auf die Vorkriegssituationen gelegt, in denen, so die leitende These, Erwartungen artikuliert und dadurch realitätsformend werden.

Somit werden zweitens die für die jeweiligen Akteure handlungsleitenden Temporalitäten, die „Historizitätsregimes“, erschlossen. Das Projekt konkretisiert dabei die anthropologischen Ka­tegorien Reinhart Kosellecks, „Erfahrungsraum“ und „Erwar­tungshorizont“ und analysiert ihre immanente Dynamik und Prozessualität.

Diese Kombination zweier Problem­be­reiche erfordert es, sich neuerlich mit dem Begriff des Ereignisses zu befassen, das als (nar­ra­ti­ve) medial gebundene Konstruktion aus dem Handeln der Akteure begriffen wird. Gefragt wird nach den Möglichkeiten der Akteure, Erwartungen in zukunftsgestaltendes Handeln zu ver­wandeln.

Als ein chronologisches, aber viel mehr noch als ein konzeptionelles Gegenüber zum Tod des spanischen Königs 90 Jahre später dient dabei die Situa­tion nach der Ermordung des französischen Königs Heinrich IV. (1610) als Untersuchungs­objekt: Mit seinem Tod als einem plötzlichen Ereignis brach eine Kriegserwartung ab und es werden andere Erwartungs­ho­rizonte sichtbar. Hier setzt das Projekt an und untersucht das Verhältnis zwischen der Wahrnehmung einer Zukunftsoffenheit, die kalkuliert werden kann, und der Vorstellung einer prädestinierten Schicksalserfüllung, die sich in einer zeichenerfüllten Welt zu orien­tie­ren sucht. Es zielt zugleich darauf, wie weit die vor allem soziale Begrenzung und Kontrolle des Wissens und somit der Erwartungen an die Zukunft gelingen kann – oder ob durch Erwar­tungs­handlungen in einer Art self-fulfilling prophecy gegen jede kontrollierte Gestaltung die Zukunft verändert wird.