Black Swans in Public Administration
Rare Organizational Failure with Severe Consequences
Abstract
In professionellen Verwaltungen rechtsstaatlicher Demokratien sind Organisationsmängel und Fehlentscheidungen, die Gefährdungen oder den Verlust von Menschenleben nach sich ziehen, seltene Extremfälle. Gleichwohl treten solche Fälle ein. Beispiele sind Koordinations- und Führungsmängel im Bereich der Jugendfürsorge mit der Folge von Kindesmisshandlungen mit Todesfolge, Organisationsversagen bei der Bewältigung von Naturkatastrophen, Fehlplanungen und Organisationsmängel bei der Vorbereitung und Durchführung öffentlicher Großveranstaltungen, unentdeckte Konstruktionsmängel und mangelnde Wartung öffentlicher Infrastrukturen mit der Folge von Brücken- oder Gebäudeeinstürzen, Ämterrivalität zwischen Polizei und Nachrichtendiensten bei der Verfolgung politischer Straftäter oder organisierter Kriminalität, etc.
Ähnlich wie seltene, aber schwere Unfälle oder seltene, aber schwere Erkrankungen können Vorkommnisse dieser Art nicht als vernachlässigbare statistische Größe behandelt werden. Sie ähneln jenen statistisch insignifikanten Fällen mit signifikanten Folgen, für die Nassim Taleb, in Anlehnung an Karl R. Poppers Falsifikationsmetapher (Popper 1959, 100-103), das Bild vom Schwarzen Schwan benutzt hat (Taleb 2007): Seltenheit bedeutet nicht notwendigerweise Unwichtigkeit. Bei Gefährdungen der physischen Sicherheit von Menschen ist dies schon aus ethischen Gründen so. Hinzu kommen die analytischen Gründe: Gerade bei einem schwarzen Schwan möchte man wissen, welche genetischen Bedingungen der Abweichung von der Norm zugrunde liegen.
Der Untersuchung liegt die Prämisse zugrunde, dass Verwaltungen Standardpathologien aufweisen, die als kausale Mechanismen von Organisationsversagen wirken können, aber nicht müssen. Beispiele sind Koordinationsprobleme, Informationsasymmetrien, Kontroll- oder principal agent-Probleme, Betriebsblindheiten (selective perception), Konformitätsdruck (group think), Veto-Spieler-Konstellationen etc. Als Ursache von Organisationsversagen in der Verwaltung mit schwerwiegenden Folgen für die physische Sicherheit von Menschen kommen diese Mechanismen für sich genommen aber gerade aufgrund ihrer Allgegenwart kaum in Betracht. Verwaltungspraktiker kennen diese Standardpathologien und professionelle Verwaltungen verfügen auch über entsprechende Korrekturroutinen. Bei Risiken für Leib und Leben sollten diese Korrekturen erst recht greifen, zumal sie oft genug in bindenden Sicherheitsvorschriften ihren Niederschlag gefunden haben. Dies ist offenbar ist in der Regel auch der Fall. Insofern sind professionelle Verwaltungen rechtsstaatlicher Demokratien im Hinblick auf die Gewährleistung physischer Sicherheit eigentlich high reliability organizations (Roberts 1990, Rochlin 1993, Roe & Schulman 2008).
Das Projekt geht daher der Frage nach, wie es zu erklären ist, dass Korrekturen von Standardpathologien in der Verwaltung unterbleiben, obwohl sie eigentlich aus zwei Gründen greifen müssten: Erstens, weil in professionellen Verwaltungen rechtsstaatlicher Demokratien eine Null-Toleranz-Praxis in Fragen physischer Sicherheit gilt, und zweitens, weil aus diesem Grund bei entsprechenden Risikolagen Korrekturen von Standardpathologien der Verwaltung die Regel sind.
Die hierauf bezogene Generalhypothese der Untersuchung basiert auf dem Externalisierungstheorem der Wohlfahrtsökonomik (Buchanan & Stubblebine 1962, Coase 1960, Greenwald & Stiglitz 1986, Pigou 1920): Gefährdungen physischer Sicherheit durch Verwaltungsversagen sind externe Effekte zu Lasten der Bürger, deren Leben und körperliche Unversehrtheit öffentliche Verwaltung eigentlich schützen soll. Wenn professionelle Verwaltungen rechtsstaatlicher Demokratien trotz Null-Toleranz in Fragen physischer Sicherheit und daraus folgender Korrekturen organisatorischer Standardpathologien Gefährdungen physischer Sicherheit auslösen, müssen dem, so die Annahme, Gegenanreize zu Grunde liegen, die Verwaltungsangehörige solche externen Effekte zu Lasten Dritter in Kauf nehmen lassen und insofern physische Sicherheit selbst unter high reliability Bedingungen „verhandelbar“ machen (vgl. Schulman 1993).
Zwei Gruppen von Gegenanreizen kommen hypothetisch in Betracht, nämlich (H1) institutionelle Mechanismen oder Arrangements, die die Zurechnung und Anerkennung von Verantwortung für Handlungen oder Unterlassungen von Verwaltungsangehörigen schwächen, und (H2) Ungleichgewichte von Externalisierungsdruck auf Verwaltungsseite und Externalisierungswiderstand auf Betroffenenseite in Form von (H2a) Ressourcenknappheit, politischen Erwartungen, Sanktionsdrohungen etc., die auf Verwaltungsseite die Bereitschaft zum Eingehen von Risiken zu Lasten Dritter steigern, und (H2b) mobilisierungsschwache Adressaten des externalisierungsverursachenden Verwaltungshandelns, von denen keine oder vernachlässigbare Sanktionen zu erwarten sind.
Die Untersuchung widmet richtet sich im engeren Sinne der Überprüfung dieser Hypothesen über risikosteigernde Gegenanreize, die als ausschlaggebende kausale Mechanismen angenommen werden. Im weiteren Sinne geht es um einen Beitrag zur theoretischen Diskussion über Funktion und Grenzen des Pragmatismus in der öffentlichen Verwaltung. Denn erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Verzicht auf die Eindämmung von Standardpathologien auf einer pragmatischen Entscheidungslogik beruhen, die unter normalen Umständen – dann also, wenn es nicht um Gefährdungen physischer Sicherheit gehen würde – als weitgehend angemessen gelten können (vgl. Seibel 2014b, 2016c, 2016d). Legitim ist diese Praxis jedoch nur bei Beachtung klar definierter Grenzen, zu denen der unveräußerliche Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit gehört. Zu vermuten ist daher, dass selbst unter den Bedingungen einer professionell-rechtsstaatlichen Verwaltung Anreize entstehen können, diese Grenzen zu überschreiten. Daran knüpft sich die Frage, wie, einerseits, institutionelle Arrangements und, andererseits, die ethische Ausstattung des Führungspersonals in der öffentlichen Verwaltung beschaffen sein müssen, damit solche Grenzüberschreitungen weniger wahrscheinlich werden.