Familie, Besitz, Memoria. Verwandtschaft als materielles und spirituelles Fundament des spätmittelalterlichen Mönchtums
Abstract
Max Weber irrte, als er meinte, Familienfeindlichkeit sei im Christentum ein Kernstück asketischer Virtuosenfrömmigkeit. Die von Matthäus (10, 35–38) verlangte radikale Abkehr vom Hausverband ist als frühchristlicher Konversionsappell zu begreifen und wurde im Mittelalter auch als solcher gedeutet. Sonst begegneten die Exegeten den Herrenworten über die Jahrhundert hinweg mit bemerkenswerter Zurückhaltung. Im Ordo caritatis, der Gott über alle anderen Menschen stellt, auch über Vater und Mutter, glaubten die Schriftgelehrten eine angemessene Lösung gefunden zu haben, den Appell zu entschärfen. Ihre Kommentare machen deutlich, dass die eigentliche Herausforderung nicht die Familie war, sondern die Aporie zwischen Dekalog (2 Moses 20, 12) und Christusnachfolge (Matthäus 19, 21).
Die alles überragende Liebe zu Gott widersprach der im Vierten Gebot fixierten und mit drastischen Strafen belegten Gehorsamspflicht der Kinder Vater und Mutter gegenüber. Von diesem Konflikt handelt ein Gutteil der mittelalterlichen Bekennerviten; davon handelt (im Spätmittelalter) umgekehrt aber auch manch ein Gerichtsfall, in dem sich Kinder in Berufung auf kanonisches Recht gegen Väter zur Wehr setzten, die sie zum Leben im Kloster zwangen.
Die Familie beziehungsweise Verwandtschaft konstituierte in der Geschichte des Mönchtums kein Konkurrenzverhältnis, wie uns die an Regelliteratur orientierte Ordensgeschichte längere Zeit glauben machte. Vielmehr war die Familie in historisch wandelbarer Gestalt von Anfang an Stützpfeiler und Nährboden, auf dem religiöse Berufung gedieh und reifte in spiritueller wie in materieller Hinsicht. Aus der Nachkommenschaft der heiligen Makrina (gest. um 340) entstieg eine Schar heiliger Frauen und Männer, die bald in Gruppen, bald alleine Gott dienten und die Erinnerung an ihre leibliche und geistige Urmutter wachhielten. Die Legenden von heiligen Geschwistern führten den Gläubigen vor Augen, dass Geschwisterliebe in Christo die Ordo caritatis nicht infrage stellte, sondern vielmehr bestärkte. Diese Kraft wurde zuweilen selbst für Freundschaftspaare beansprucht (analog zu den Geschwistern).
Auf ebendiese „familienfreundlichen“ Dimensionen des abendländischen Mönchtums soll sich mein neues Buchprojekt konzentrieren, das thematisch und organisatorisch mit dem beim Exzellenzcluster eingerichteten Forschungsprojekt ‚Klöster und Klausen am Bodensee. Integration und Desintegration einer Klosterlandschaft’ in unmittelbaren Zusammenhang steht. Beschränken wird sich das Buchprojekt aus methodischen Gründen auf das späte Mittelalter, weil die Familie als Folge einer sich veränderten Praxis der Namengebung in den spätmittelalterlichen Quellen so sichtbar ist wie nie zuvor.
Die Hagiographie böte reichhaltiges Material, meine Thesen zu stärken, wenn selbst Figuren wie Nikolas von der Flüe (gest. 1487), zehnfacher Familienvater, ihr Einsiedlerleben in „Rufweite“ von Frau und Kinder führten. Doch möchte ich meine Untersuchung nicht auf hagiographische beziehungsweise narrative, sondern auf serielle Quellen stützen, um die strukturellen Dimensionen des Phänomens besser erfassen zu können.
Verpflichtet ist das Projekt den Methoden der Sozialgeschichte, nicht aber deren Prämisse (dass die soziale Herkunft notwendigerweise die prägende Kraft im Denken und Handeln der Menschen sei). Auf Frauenklöster werde ich mich beschränken, weil in den meisten spätmittelalterlichen Männerklöstern kaum mehr Mönche anzutreffen sind. Mit zunehmender Mendikantenfeindlichkeit der südwestdeutschen Städte verlor das „Kloster“ für Männer an Attraktivität zugunsten des „Kollegiatstifts“.