Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Bildung und soziale Ungleichheit

Zur narrativen Formierung gesellschaftlicher Dynamiken um 1800

Prof. Dr. Eva Blome

Abstract

Das Forschungsprojekt unternimmt eine historisch-semantische Erkundung der diskursiven Grundlagen des Zusammenspiels von (Nicht-)Bildung und sozio-kulturellen Dynamiken um 1800. Durch die Lektüre von literarischen und nicht-literarischen Texten werden die integrativen und desintegrativen Effekte von Bildung und ihren Institutionen akzentuiert, die sowohl die Relativierung der sozialen Herkunft als auch die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Klassifikationssysteme bewirken.

Eine Prämisse der so genannten Wissensgesellschaft betrifft die zentrale Rolle, die Bildung für Prozesse individueller Identifikation wie gesellschaftlicher Stratifikation spielt. Zugleich wird das Verhältnis von Bildung und Gesellschaft derzeit neu gedacht: Konstatiert wird, dass das Versprechen eines bildungsgetriebenen sozialen Aufstiegs neuerdings nicht mehr greife. Mit Blick auf allerorten verstärkt wahrgenommenen Populismus und Abgrenzungsversuche gegenüber der „Elite“ und den „Intellektuellen“ wird verstärkt die Frage diskutiert, inwiefern Bildung überhaupt weiterhin als ein Mittel gesellschaftlicher Integration angesehen werden kann.

Ausgehend von diesen aktuellen Beobachtungen erkundet das Forschungsprojekt die diskursiven Grundlagen des Zusammenspiels von (Nicht-)Bildung und sozio-kulturellen Dynamiken am hierfür neuralgischen Zeitpunkt ‚um 1800‘ – also für einen Zeitraum, an dem sich das ‚pädagogische Jahrhundert‘ und das Jahrhundert der Klassenbildung im Zuge einer „Bildungsrevolution“ (H. Bosse) überlagern. Für diese ‚Sattelzeit‘ werden sowohl die integrativen Effekte von Bildung und ihren Institutionen in den Blick genommen, die die Relativierung der sozialen Herkunft bewirken, als auch die desintegrativen Effekte, die zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Klassifikationssysteme führen.

Der literaturwissenschaftliche Einsatzpunkt der Analyse liegt dabei in der Annahme begründet, dass die ambivalenten sozialen Effekte von Bildung in der paradigmatischen Unbestimmtheit erzählender Texte in besonderer Weise produktiv werden, da diese die gegenläufigen, auf klassenspezifische Differenzierung und individuelle Emanzipation zielenden Semantiken von Bildung nicht zu einer Seite des Deutungsmusters hin auflösen müssen.

Neben den bekannten Bildungsromanen von Moritz, Goethe, Stifter und Keller werden auch ‚marginalere‘ Erzählungen und (proto-)autobiografische Lebensbeschreibungen, die Bildungswege von männlichen, aber auch von weiblichen Protagonisten schildern, wie zudem programmatische Texte der zeitgenössischen pädagogischen Debatten in die Untersuchung miteinbezogen. Im Mittelpunkt der Lektüren stehen diejenigen Sozialfiguren, die die Schnittstellen von Bildung und sozio-kulturellen Ordnungskategorien in exzeptioneller Hinsicht markieren, so etwa Hauslehrer (und ihre Schüler_innen), Bildungsphilister, lesende Frauen, das ‚unverbildete Volk‘ (G. Büchner), gelehrte Arbeiter und andere Autodidakten. Um diese Figuren herum lagern sich spezifische Narrative an – Bildung als sozialer Aufstieg resp. Deklassierung, Bildung in Form von Eskapismus/Bildungsverweigerung, Bildungsexperimente mit Frauen, Kolonisierten und anderen deklassierten Subjekten sowie Bildungskritik –, anhand derer die wechselseitige Konstitution von Bildungsprogrammen und sozialen Dynamiken dargestellt werden kann.

Die dieser Betrachtung zugrunde liegende ideengeschichtliche Rekonstruktion von Bildung als eines Schlüsselbegriffs des 18. und 19. Jahrhunderts wird weit gefasst und mit Fragestellungen einer Sozialgeschichte der Literatur gekoppelt. So wird Bildung im Spannungsfeld von kultureller Objektivationen (lat. formatio, institutio) und innerer Verfeinerung (cultus animi, humanitas) verortet und die besondere Nähe von Ästhetik, Bildung und Sozialstatus mit Hilfe von kulturwissenschaftlichen, soziologischen, institutionentheoretischen und historischen Forschungsansätzen herausgearbeitet. Diskutiert wird ein spezifischer Nexus, der im ausgehenden 18. Jahrhundert Bildung in seinen theoretischen, sozialgeschichtlichen und literarischen Erscheinungsweisen mit Phänomenen der Normierung und Klassifizierung verschränkt.

Als ein mögliches Scharnier bietet sich die vielfach verhandelte Formproblematik an, die ihren politischen Einsatz immer dort zu erkennen gibt, wo es um ästhetische Bildung im weitesten Sinne, um Menschenformung (individuell wie kollektiv: die Menschheit, später: die Nation) geht. Der Einheitsgedanke steht dabei in deutlicher Spannung zur Notwendigkeit gesellschaftlicher Stratifikation oder Klassifizierung – ein Spannungsverhältnis, das den literarischen Texten der Bildungsromantradition (und den diese flankierenden subalternen Bildungsgeschichten) nicht nur eingeschrieben ist, sondern das diese Texte zugleich mitgestalten wie reflektieren.

Vor diesem Hintergrund lässt sich die These konturieren, dass die ‚gefährliche Leerstelle: Gesellschaft‘, die dem deutschen Bildungskonzept bis heute diagnostiziert wird, bereits in den Bildungserzählungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts kenntlich gemacht wird und dass hier Vorstellungen eines mit sich ‚identischen‘ Menschen mit der Evidenz einer in sozialer Hinsicht mehrfach gespalteten Gesellschaft enggeführt werden. So treten diejenigen Identifikationsprozesse hervor, die durch die gleichermaßen inkludierenden wie desintegrativen Aspekte der Bildungsidee katalysiert werden. Bildungsgeschichten verhandeln also immer schon den unabgeschlossenen, mal elitären, mal dilettantischen, immer aber kontroversen Charakter aktiver, z.B. autodidaktischer, Selbstbildungsprozesse und passiver Identitätsbildungen.

Angesichts dessen legt das Forschungsprojekt seinen (methodischen) Schwerpunkt auf intersektionale Ansätze, die der Vorstellung einer konsistenten Bildungsideologie und -realität eine Pluralität von Bildungskonstellationen und Identifikationsprozessen gegenüberstellen. Von besonderem Interesse sind auch diejenigen (literarischen) Entwürfe, die das Grundmuster einer konsistenten, vermeintlich mit sich selbstidentischen Bildung mit einem Zweifel versehen oder sich diesem gänzlich verweigern.

Offengelegt wird in den analysierten Texten, wie sich Herrschaftsverhältnisse gerade durch Bildungsasymmetrien – seien diese nun institutionell verfestigt oder ästhetisch als Selbst-Bildungen aufgeladen – konstituieren. So lässt sich bereits für die Zeit um 1800 aufzeigen, welche Funktionen die Ausgrenzung von falscher, philisterhafter oder dilettantischer Bildung im Rahmen epistemischer Selbstverständigungsprozesse hat.

Die dominanten Bildungsnarrativen werden, so ein erstes Ergebnis der entstehenden Studie, durch ‚andere‘ Modelle von Bildung flankiert, die bisher, nicht zuletzt aufgrund der literaturwissenschaftlichen Fokussierung auf ‚den‘ Bildungsroman, wenig beachtet wurden, zugleich aber gegenwärtig wieder an Relevanz gewinnen: die Verweigerung von Bildung oder die Aufwertung von Nicht-Bildung.