Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die kommunikative Konstruktion der Weltgesellschaft

Prof. Dr. Boris Holzer

Abstract

Die zunehmende verkehrs- und informationstechnische Vernetzung der Welt führt zu neuen Kontakt- und Austauschmöglichkeiten, verändert aber auch die Wahrnehmung und Beschreibung von Gesellschaft. Das Forschungsvorhaben untersucht, wie und unter welchen Bedingungen Globalität kommunikativ konstruiert und damit zu einem sozialen Sachverhalt wird.

Globalisierung wird in den Sozialwissenschaften als ein Prozess der verkehrs- und informationstechnischen Vernetzung beschrieben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie gesellschaftliche Selbstbeschreibungen auf diese Veränderungen reagieren. Trotz der evidenten Globalisierung gesellschaftlicher Teilbereiche hat die Vorstellung einer „Weltgesellschaft“ den nationalstaatlichen Gesellschaftsbegriff nicht verdrängt. Es ist offenbar nicht zwingend und häufig nicht einmal überzeugend, globale soziale Beziehungen als Einheit zu begreifen.

Doch auch ohne eine explizit auf die „Welt als Ganze“ abzielende Begrifflichkeit wird Weltgesellschaft ständig kommunikativ konstruiert: zum Beispiel bei kritischen, die Aufmerksamkeit einer Weltöffentlichkeit auf sich ziehenden Ereignissen oder als Handlungsfolie und Selbstbeschreibung globaler Organisationen. Anhand einzelner Fallstudien soll das Forschungsvorhaben die verschiedenen Formen beleuchten, in denen Weltgesellschaft zu einem sozialen – und das heißt: kommunikativ konstruierten – Sachverhalt wird.

Die Globalität sozialer Beziehungen war schon seit mindestens 2000 Jahren Gegenstand semantischer Innovationen gewesen: zum Beispiel in früh formulierten Vorstellungen eines allgemeinen Gastrechts, der kosmopolitischen Zugehörigkeit zur Menschheit und des Ius gentium; sowie in jüngerer Zeit in der Idee einer Globalgeschichte, die Ereignisse weltweit verknüpft, in der Vision einer weltumspannenden „Konversation“ und schließlich in der Selbstbeschreibung einzelner sozialer Felder als globalen, sachlich differenzierten Kommunikations­zusammenhängen, die von territorialen Grenzen unabhängig sind.

Diese unterschiedlichen Beschreibungen spiegeln bereits die Tatsache wider, dass sich die Bedingungen globaler Vergesellschaftung im 19. Jahrhundert radikal verändert haben. Kommunikation war lange Zeit an physische Bewegung und damit an die jeweilige Transporttechnologie und die dadurch ermöglichten Verkehrsnetze gebunden gewesen. Dies änderte sich mit den neuen (Tele‑)Kommunikationstechnologien wie der Telegraphie. Die elektromagnetische Übertragung von Informationen ermöglichte eine „Entkopplung“ von Transport- und Kommunikationsnetzen: Kommunikation wurde unabhängig von physischer Kopräsenz, und erst unter dieser Voraussetzung konnte sie sich von nichtsozialen Konditionierungen emanzipieren. Physische Nähe entscheidet nicht mehr über die kommunikative Relevanz und über die Einbindung in Kommunikationssysteme.

Umgekehrt bedeutet auch physische Ferne nicht mehr, dass andere schwer erreichbar oder irrelevant wären. Im Gegenteil: In dem Maße, in dem sich die Kommunikationsmöglichkeiten von den physischen Transportnetzen entkoppeln, wird die Kontaktaufnahme mit weit entfernten Menschen mitunter einfacher als mit den eigenen Nachbarn.

Die sozialwissenschaftliche Globalisierungsdebatte hat unser Verständnis der damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Transformation verbessert. Sie übersieht aber oft, dass sie die Veränderungen nicht nur beobachtet, sondern selbst an ihnen teilnimmt: Sie untersucht nicht nur einen Gegenstand, sondern konstituiert ihn durch ihre Diagnosen – oder auch durch Metaphern wie jener des „globalen Dorfs“ – gleichsam selbst. Doch nicht nur die Wissenschaft wirkt an der Konstruktion des Gegenstands „Globalisierung“ mit. Die Weltgesellschaft ist nicht nur ein Gegenstand soziologischer Beschreibung, sondern alltäglicher Praktiken und Beschreibungen. Es gibt Advokaten ebenso wie Kritiker der Globalisierung, wie zum Beispiel die Manager transnationaler Konzerne, Aktivisten sozialer Bewegungen und kosmopolitische Intellektuelle.

Neben solchen zur Inszenierung und Performanz von Globalisierung beinahe schon verpflichteten Rollen, die häufig im Kontext global orientierter Organisationen stehen, gibt es aber auch rein situative Thematisierungen globaler Zusammenhänge: interkulturelle Missverständnisse, internationale Krisen oder auch globale Naturkatastrophen. Wenn es ein „Bewusstsein“ für die Einheit globaler Vergesellschaftung gibt, dann nicht im Sinne einer Dauerreflexion. Die Thematisierung und Reflexion globaler Zusammenhänge sind an bestimmte Anlässe geknüpft oder werden von darauf spezialisierten Individuen, Organisationen und sozialen Bewegungen gepflegt.

Die Frage nach dem sozialen Zusammenhang der Weltgesellschaft soll vor diesem Hintergrund reformuliert werden als Frage nach Formen der Selbstbeschreibung, die Globalität kommunikativ zugänglich machen. Damit werden zu kompakte Erwartungen an die sachliche, soziale und zeitliche Stabilität von Identitätszuschreibungen vermieden, und es wird der Blick geöffnet für widersprüchliche, konflikthafte und episodische Formen der Integration.

Das Forschungsvorhaben hat zwar einen makrosoziologischen Problembezug, stellt aber in Rechnung, dass gesellschaftliche Selbstbeobachtung in konkreten Situationen und mit konkreten Anlässen erfolgt. Die Soziologie der Weltgesellschaft, zu der es beitragen möchte, ist daher keineswegs auf Gesellschaftstheorie beschränkt, sondern befasst sich mit allen Ebenen und Skalierungen der sozialen Wirklichkeit.