Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Zur Rekursivität von Pluralisierungsprozessen

Prof. Dr. Christian Meyer

Abstract

Gegenstand meiner Forschung sind neuere Entwicklungen gesellschaftlicher Pluralisierung in einem weiten Sinne. Bisherige Ansätze und Forschungen gehen weitgehend von linearen Dynamiken dieser Prozesse aus. In meiner Forschung hingegen thematisiere ich neuere nicht-lineare, d.h. rekursive und reflexive Tendenzen, die aus der Rückkoppelung und Selbstverstärkung durch die „Pluralisierung der Pluralisierungstrends“ entstehen.

Gegenstand meiner Forschung am kulturwissenschaftlichen Kolleg sind neuere Entwicklungen der gesellschaftlichen Heterogenisierung, Fragmentierung und Pluralisierung unter besonderer Berücksichtigung ihrer rekursiven Effekte, die aus der Rückkoppelung und Selbstverstärkung durch die „Pluralisierung der Pluralisierungstrends“ selbst entstehen. Bisherige Ansätze und Forschungen gehen weitgehend von linearen Dynamiken gesellschaftlicher Heterogenisierung, Fragmentierung und Pluralisierung aus. Selbst die „Super-Diversity“ von Vertovec thematisiert allein die kumulativen Effekte, die durch die weltweite Diversifikation von Migrationskanälen, die Differenzierung legaler Status, die auseinandertretenden Muster von Gender und Alter und die Variationen im kulturellen und sozialen Kapital der Migranten entstehen.

In meiner Forschung hingegen werfe ich eine neue Perspektive auf gegenwärtige Pluralisierungstrends, indem ich nicht-lineare, d.h. insbesondere rekursive, reflexive und exponentielle Dynamiken empirisch und theoretisch untersuche. Denn die aktuelle Situation besteht nicht allein in einer Ko-Existenz und Aufsummierung des Pluralen und Fragmentierten, sondern in der wechselseitigen Potenzierung.

Der Grund dafür ist, dass sich aktuelle Entwicklungen in modernen Gesellschaften durch eine Verschränkung unterschiedlicher Pluralisierungsformen auszeichnen. Mindestens vier Trends sind diesbezüglich aktuell zu identifizieren:

  1. Eine durch Globalisierung und Migration induzierte sozio-kulturelle Pluralisierung,
  2. eine durch demographische Alterung und Inklusion verstärkt entstehende sozio-kognitive Pluralisierung,
  3. eine durch Innovationen im Bereich künstlicher Intelligenz und Robotik generierte sozio-technische Pluralisierung und
  4. eine durch digitale Medien erzeugte sozio-epistemische Pluralisierung von geschlossenen Mikromilieus.

Anhand konkreter Beispiele dieser vier Entwicklungen erforsche ich die gesellschaftlichen Auswirkungen der Zusammenwirkungs-, Selbstverstärkungs- und Rückkopplungseffekte unterschiedlicher sozialer und kultureller Pluralisierungsformen. Rekursionseffekte entstehen durch Kontakte und Verzahnungen der durch die genannten Prozesse erzeugten neuen Diskurs- und Praxisgemeinschaften, was wiederum neue multiple und sich überschneidende Pluralisierungsprozesse aus der Situation der bestehenden Pluralität heraus anstößt.

Ein Beispiel hierfür sind Konstellationen in Altersheimen, wenn Bewohner mit Migrationshintergrund, die unter einer Demenz sukzessive ihre Zweitsprachenkompetenzen und ihr kulturelles Wissen über das Aufnahmeland vergessen, von Pflegern mit wieder anderem Migrationshintergrund gepflegt werden. Die Pflege selbst geschieht ihrerseits verstärkt in Kollaboration mit intelligenten Pflegerobotern, deren interaktionalen Fähigkeiten die kulturspezifischen Grundorientierungen ihrer Entwickler (z.B. aus Japan) eingeschrieben sind.

Indem sich in dieser Form verschiedenartig gelagerte Pluralitäten permanent dynamisch miteinander verschränken und reflexiv aufeinander beziehen, entstehen Rückkopplungs- und Selbstverstärkungseffekte. Aus diesen bilden sich dann wiederum eigene Mikromilieus heraus, in denen neue Semantiken und Praktiken entstehen und zirkulieren, die dann in Interaktion mit den Semantiken und Praktiken anderer, ähnlich komplexer Mikromilieus interagieren, was weitere Selbstverstärkungs- und Rückkopplungseffekte anstößt.

Wenn in diesem Sinne Prozesse sozio-kultureller, sozio-kognitiver, sozio-technischer und sozio-epistemischer Pluralisierung gemeinsam auftreten und zusammenwirken, dann stellen sich erstens Fragen nach den in einem breiten Sinne kulturellen Grundlagen der Integration, der Verständigung und des kollektiven Handelns mit und unter diesen Alteritäten, nach den Möglichkeiten und Grenzen der Bildung verstetigter Kommunikations- und Sozialformen mit oder unter ihnen, nach der Entstehung von mit ihnen verbundenen neuen Objektformen und Materialitäten und nach dem Status der jeweiligen Alteritäten als Rechtssubjekte – um nur einige Aspekte zu nennen, die empirisch für die vier genannten gesellschaftlichen Prozesse von Relevanz sind.

Darüber hinaus zeigen sie zweitens aber auch auf überdeutliche Weise, dass überkommene Grenzbestimmungen des Sozialen, die etwa einen „normalen wachen Erwachsenen“ als Standardfall setzen, problematisch werden und das Soziale an seinen Rändern zerfasert und für „hybride Akteure“ durchlässig wird.

Unter den Akteuren bestand freilich schon lange ein Wissen darum, dass sich diese Sozialitäten schwerlich am Maßstab der zentrierten Rationalität des bürgerlichen Zeitalters mit seinen engen Sozialitätsdefinitionen ausrichten lassen. Die sich generalisierenden Erfahrungen mit neuen Sozialitäten führen zu einem Geltungsverlust herkömmlicher semantischer Stabilisierungen des Sozialen. Wenn man die Alltagserfahrungen derjenigen Personen, die mit Pluralisierung und dem Umgang mit an den Grenzen des Sozialen verorteten Wesen zu tun haben, als den Ort ansieht, an dem rekursive Pluralisierung zuerst und maßgeblich stattfindet, dann entsteht drittens die Notwendigkeit, nicht nur Semantiken und Diskurse, sondern prominent Praktiken in die Forschung einzubeziehen.

Daher werden weniger ethnotheoretische Klassifikationen und Wissensordnungen als vielmehr die Praxis als Grundlage für die Kategorisierung der Wesen der sozialen Welt angesehen und zur empirischen Forschungsgrundlage gemacht. Von Interesse für das geplante Projekt sind also insgesamt sowohl der Wandel der Diskurse, Semantiken und Praktiken als auch das permanente Entstehen neuer Diskurs- und Praxisgemeinschaften durch rekursive Prozesse.

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