Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Wissen im Entzug

Zur Emergenz und Funktionslogik der Dunkelziffer im 19. Jahrhundert

Dr. Sophie Ledebur

Abstract

Die Dunkelziffer ist eine Figur des Verdachts. In einem unbestimmten Raum, changierend zwischen Wissen, Nichtwissen und böser Vorahnung, partizipiert die Rede von der Dunkelziffer sowohl an der objektivitätsversprechenden Statistik, als auch zugleich an einer proklamierten Gefahr. Anhand von historischen Fallstudien zur Produktion approximativer Daten zeige ich deren konstitutives Moment in ihrer Wechselwirkung mit den daran geknüpften Forderungen und Maßnahmen auf. 

Dunkelfeldstudien sind in Deutschland seit dem Beginn unseres Jahrtausends Gegenstand großangelegter Forschungsprogramme. Zu diesen zählen der Erste und Zweite Periodische Sicherheitsbericht (2001 und 2006), das Barometer Sicherheit in Deutschland (2010–2013) und das Victimisation Survey Module (2008–2010). Die in Verbund von Politik und Wissenschaft erhobenen Daten und die darauf gründenden Analysen sollen Prävention und frühzeitiger Intervention eine neuartige Basis geben. Die Dunkelfeldforschung avancierte im Rahmen dieser Programme zu einem staatlichen Forschungsinteresse und operiert wirkmächtig auf einer terra incognita. Entgegen der aktuellen Konjunktur dieser, in den späten 1960er Jahren etablierten kriminologischen Subdisziplin steht jedoch deren Geschichte weitgehend im Dunklen.

Im Zentrum des Forschungsvorhabens steht ein Wissen im Entzug: Sei es eine dunkle Ahnung, erfahrungsbasierte Vermutung, approximative Schätzung, vorurteilsbelastete Zuschreibung oder eine methodisch gestützte Hypothese – die Rede von der ‚Dunkelziffer’ markiert ein Nicht/Wissen von tendenziell unzugänglichen Bereichen der Gesellschaft. Zugleich geht mit ihr die implizite oder explizite Annahme einher, dass es sich hierbei um ein beträchtliches, wenn nicht gar bedrohliches Ausmaß von unbekannten Vorgängen handeln könnte. Nicht zuletzt evoziert sie ein gesellschaftliches Begehren nach einer Ausweitung des Wissens von nur schwer zugänglichen oder clandestinen Bereichen. Die hierzu in Gang gesetzten Techniken der Informationsbeschaffung sind notwendigerweise limitiert. Sie evozieren Mischformen zwischen Wissen und Nichtwissen, welche einer spezifischen Dramaturgie folgen.

Der Terminus ‚Dunkelziffer’ wurde 1908 im Zusammenhang mit der im ausgehenden 19. Jahrhundert initiierten Strafrechtsreformbewegung geprägt. Die Sorge um eine Entkoppelung realer Vorkommnisse von ihrer faktischen Erfassbarkeit datiert jedoch deutlich weiter zurück. Eine Analyse der Geschichte der Dunkelziffer avant la lettre zielt erstens auf die Emergenz dieser Nicht/Wissensfigur, ihre Funktionslogiken und deren epistemologische Implikationen. Diese Fragen sind zweitens nicht abzulösen von den hierbei angewandten Techniken der Kartographierung eines unbekannten Territoriums. Mit diesen Verfahren sollte eine neue Form von Sichtbarkeit des ‚Wesens’ sozialer Kollektive hergestellt werden. Sie sind drittens danach zu befragen, auf welche Weise die Praktiken der Erhebungen die Gegenstände ihres Interesses mitbestimmten. Viertens ist das Augenmerk auf den Einsatz des unsicheren Wissens in Wechselwirkung mit den daran geknüpften Forderungen und Maßnahmen zu richten.

Welche Strategien aber wurden in Anschlag gebracht, um zu Informationen und Daten eines unbekannten Terrains zu gelangen, die es erlauben sollten, aus der grenzenlosen Kontingenz des Verdachts Kriterien und Regelmäßigkeiten herauszubilden? Welchen Anteil hatte dieses limitierte Wissen an der Konfiguration einer sozialen Topographie? Wie funktionierte die Transformation eines unbestimmten Wissens in Wahrscheinlichkeiten, an denen sich wiederum Präventionsmaßnahmen gezielt ausrichten ließen? Wer waren die Beteiligten dieser institutionellen, medialen und administrativen Operationen, und auf welche Weise konnten sie Glaubwürdigkeit erlangen? Inwiefern handelt es sich um Technologien ‚gouvernementaler Regierungskunst’, deren „policeyliche“ und staatliche Für- und Vorsorgemaßnahmen auf eine Durchwaltung der Bevölkerung zielten, die auch vor ihren dunkelsten Winkeln nicht halt machte? Um die Geschichte dieses per definitionem limitierte und unsichere Wissen beschreibbar zu machen, ist der Blick auf die Praktiken unabdingbar. Anhand dreier Fallstudien gilt es drei unterschiedliche Ebenen in den Blick zu nehmen: die Erfassung der geheimen Prostitution (in Berlin), das Streben nach einem Wissen um das Ausmaß von psychischer Devianz innerhalb der (preußischen) Bevölkerung und der (reichsweite) Versuch einer optimalen Annäherung an eine ‚Kriminalitätswirklichkeit’. Diese Fallbeispiele sollen es erlauben, auf einer Mikroebene den heterogenen Verfahren der Informationsbeschaffung und den Strategien der Sichtbarmachung der verborgenen Winkel der Gesellschaft zu folgen. Weitgestecktes Ziel des Forschungsvorhabens ist es, den gegenwärtigen Einsatz dieses im ‚Schatten der Statistik’ operierenden Nicht/Wissens aus historischer Perspektive zu beleuchten.