Politische Öffentlichkeit in Gesellschaft der Computer
Abstract
Synchronisierungsprobleme, Vereinzelung, Multiplizität: Der neue Strukturwandel politischer Öffentlichkeiten und politischer Organisationen
Die Digitalisierung der Gesellschaft verändert gleichsam politische Öffentlichkeit, politische Sozialisation und demokratische Organisationen auf revolutionäre Art und Weise. Die Digitalisierung der Gesellschaft, Veränderungen der Weltmärkte und die Globalisierung der Lebensverhältnisse greifen ineinander und zeitigen überraschende, oft auch erschreckende Folgen. Das Erstarken des Populismus in Europa und in den USA, die Veränderung von Wahlkämpfen durch die Möglichkeiten von Big Data und die Thematisierung von weltweiten Migrationsbewegungen sind nur einige dieser Veränderungen.
Das politische System, die politische Kommunikation und auch die politische Sozialisation der Bürgerinnen und Bürger verändern sich radikal. Ausgehend von empirischen Fallstudien über politische Selbstbeschreibungen, politische Organisationen, Politik in sozialen Medien und der Entstehung neuer Parteien und Bewegungen wird in diesem soziologisch-theoretischen Projekt das Augenmerk auf den folgenreichen Wandel politischer Narrative, politischer Öffentlichkeit und politischen Engagements durch Digitalisierung gelegt. In sämtlichen Fallstudien stellen sich folgende Fragen: Wie verändern sich politische Diskurse, politische Organisationen und die Ästhetik von Ideologien durch Medienevolution? Wie verändern sich Ideen von Kollektiven? Und (wie) verändern sich politische Sozialisationen und Subjektivierungen durch das Zusammenspiel von Organisationen und (Massen-) Medien?
Dieses Projekt zielt darauf, die theoretische Interpretation bereits erhobener Daten weiterzutreiben und anhand dieser einen soziologischen Vorschlag zur Bestimmung des Verhältnisses von Digitalität, Öffentlichkeit und Politik zu machen. Verschiedene Einzelwissenschaften (z.B. Geschichte, Psychologie, Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie) haben bereits überzeugende empirische Forschung zur Veränderung des Politischen im Zusammenspiel mit digitalen Öffentlichkeiten vorgelegt.
Noch fehlt es aber an überzeugenden gesellschaftstheoretischen Erklärungen, die diese interdisziplinären empirischen Ergebnisse des letzten Jahrzehnts ernst nehmen und versammelt diskutieren. Die politische Soziologie wiederum arbeitet bisher fast ausschließlich ohne Medienbegriff und – wenn überhaupt – mit schmalen Gesellschaftsbegriffen. Ziel des Schreibprojektes soll daher die Aktualisierung der politischen Soziologie anhand medien- und differenzierungstheoretischer Erkenntnisse sein, mit denen die Ergebnisse der Fallstudien weitergehend diskutiert und theoretisiert werden.
Die theoretische Herausforderung des hier vertretenen Ansatzes ist, dass er sowohl Phänomene auf der Individualebene (wie die Veränderung politischer Sozialisationserfahrungen und politischer Emotionen) als auch Phänomene auf Organisations- und Gesellschaftsebene (wie die Probleme von Behörden und Parteien in Sozialen Medien und die Vernetzung politischer Kommunikation) als Konsequenzen der Digitalisierung und Globalisierung des Politischen untersuchen möchte. Hierzu werden bspw. moderne psychoanalytische Theorien auf ihre Anschlussfähigkeit an konstruktivistische und poststrukturalistische Theorien befragt.
Als Vorbild dienen wissens-soziologische Analysen einer früheren Umbruchzeit, die Arbeiten Karl Mannheims aus den 1920er Jahren. Anhand dieser Bezüge wird die Einnahme einer multidisziplinär interessierten Haltung möglich, mittels derer mediale und politische Effekte abseits disziplinärer Unterscheidungen und Tribalisierungen (wie bspw. der Trennung von Mediensoziologie und Politischer Soziologie oder dem Desinteresse der Politischen Soziologie für die politische Psychologie und die Geschichtswissenschaft) diskutiert werden können. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinnangebote und Deutungen des Politischen wird aus dieser Perspektive bspw. nicht als direkter Effekt des Politischen sondern als ein medial-zeitlicher Effekt sichtbar, der (Selbst-)Beschreibungsprobleme und Orientierungsverluste für Personen und Synchronisierungsprobleme in Organisationen erzeugt. So können die gravierenden Umbrüche in politischen Biographien, Organisationen und der Öffentlichkeit durch Phänomene der Digitalisierung erklärt und analysiert werden.
Die Multiplizität der politischen Person, die auf unterschiedlichen medialen Oberflächen unter-schiedliche Selbstdarstellungen vollzieht, führt nicht zuletzt zu Diagnosen des Orientierungsverlustes und Beschreibungen der Vereinzelung. Auf derlei Phänomene müsste die politische Soziologie auch theoretisch reagieren, indem sie einen Gesellschaftsbegriff für sich nutzbar macht, der die Gleichzeitigkeit dieser Sinnangebote und Deutungen nicht gegeneinander ausspielt oder wegzuarbeiten versucht, sondern gerade zur Grundlage der theoretischen Untersuchung macht. Im Anschluss an Niklas Luhmanns Theorie der Politik würde die Frage dann lauten: Wie kann kollektive Bindung unter der Bedingung einer ausdifferenzierten Öffentlichkeit organisiert werden?