Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Politische Öffentlichkeit in Gesellschaft der Computer

Dr. Jasmin Siri

Abstract

Ausgehend von empirischen Fallstudien über politische Selbstbeschreibun­gen, politische Organisationen, Politik in sozialen Medien und der Entstehung neuer Parteien und Bewegungen wird in diesem soziologisch-theoretischen Projekt das Augenmerk auf den fol­gen­rei­chen Wandel politischer Narrative, politischer Öffentlichkeit und politischen Engagements durch Digitalisierung gelegt.  

Synchronisierungsprobleme, Vereinzelung, Multiplizität: Der neue Strukturwandel politischer Öffentlichkeiten und politischer Organisationen

Die Digitalisierung der Gesellschaft verändert gleichsam politische Öffentlichkeit, politische Sozialisation und demokratische Organisationen auf revolutionäre Art und Weise. Die Digitalisie­rung der Gesellschaft, Veränderungen der Weltmärkte und die Globalisie­rung der Lebensver­hältnisse greifen ineinander und zeitigen überraschende, oft auch erschreckende Folgen. Das Erstarken des Populismus in Europa und in den USA, die Verände­rung von Wahlkämpfen durch die Möglichkeiten von Big Data und die Thematisierung von welt­weiten Migrationsbewegungen sind nur einige dieser Veränderungen.

Das politische System, die politische Kommunikation und auch die politische Sozialisation der Bürgerinnen und Bürger verändern sich radikal. Ausgehend von empirischen Fallstudien über politische Selbstbeschreibun­gen, politische Organisationen, Politik in sozialen Medien und der Entstehung neuer Parteien und Bewegungen wird in diesem soziologisch-theoretischen Projekt das Augenmerk auf den fol­gen­rei­chen Wandel politischer Narrative, politischer Öffentlichkeit und politischen Engagements durch Digitalisierung gelegt. In sämtlichen Fallstudien stellen sich folgende Fragen: Wie verändern sich politische Diskurse, politische Organisationen und die Ästhetik von Ideologien durch Medien­evolution? Wie verän­dern sich Ideen von Kollektiven? Und (wie) verändern sich politische Sozialisa­tionen und Sub­jektivierungen durch das Zusammenspiel von Organisationen und (Massen-) Medien?

Dieses Projekt zielt darauf, die theore­tische Interpretation bereits erhobener Daten weiterzutreiben und anhand dieser einen soziologischen Vorschlag zur Bestimmung des Verhältnisses von Digitalität, Öffent­lich­keit und Politik zu machen. Verschiedene Einzelwissenschaften (z.B. Geschichte, Psychologie, Kommunikationswissen­schaft, Politikwissenschaft, Soziologie) haben bereits überzeugende empirische Forschung zur Verän­derung des Politischen im Zusammenspiel mit digitalen Öffentlichkeiten vor­gelegt.

Noch fehlt es aber an überzeugenden gesellschafts­theoretischen Erklärungen, die diese interdiszipli­nären empirischen Ergebnisse des letzten Jahrzehnts ernst nehmen und versammelt diskutie­ren. Die politische Soziologie wiederum arbeitet bisher fast ausschließlich ohne Medienbegriff und – wenn überhaupt – mit schmalen Gesellschaftsbegriffen. Ziel des Schreibprojektes soll daher die Ak­tualisierung der politischen Soziologie anhand medien- und differenzierungstheoretischer Erkennt­nisse sein, mit denen die Ergeb­nisse der Fallstudien weitergehend diskutiert und theoretisiert werden.

Die theoretische Herausforderung des hier vertretenen Ansatzes ist, dass er sowohl Phänomene auf der Individualebene (wie die Veränderung politischer Sozialisations­erfahrungen und politi­scher Emotionen) als auch Phänomene auf Organisations- und Gesellschaftsebene (wie die Probleme von Behörden und Parteien in Sozialen Medien und die Vernetzung politischer Kom­munikation) als Konsequenzen der Digitalisierung und Globali­sierung des Politischen untersu­chen möchte. Hierzu werden bspw. moderne psychoanaly­tische Theorien auf ihre Anschlussfä­higkeit an konstruktivistische und poststrukturalistische Theorien befragt.

Als Vorbild dienen wissens-soziologische Analysen einer früheren Umbruchzeit, die Ar­beiten Karl Mannheims aus den 1920er Jahren. Anhand dieser Bezüge wird die Einnahme einer multidisziplinär interessierten Haltung möglich, mittels derer mediale und politische Effekte abseits disziplinärer Unterscheidungen und Tribali­sierungen (wie bspw. der Trennung von Mediensoziologie und Politischer Soziologie oder dem Desinteresse der Politischen Soziologie für die politische Psychologie und die Geschichtswis­senschaft) diskutiert werden können. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinn­angebote und Deutungen des Politischen wird aus dieser Perspektive bspw. nicht als direkter Effekt des Politischen sondern als ein medial-zeitlicher Effekt sichtbar, der (Selbst-)Beschrei­bungs­probleme und Orientierungs­verluste für Personen und Synchronisierungsprobleme in Organisationen erzeugt. So können die gravierenden Umbrüche in politischen Biographien, Organisationen und der Öffentlichkeit durch Phänomene der Digitalisierung erklärt und analy­siert werden.

Die Multip­lizität der politischen Person, die auf unterschiedlichen medialen Oberflächen unter-schiedliche Selbstdarstellungen vollzieht, führt nicht zuletzt zu Diagnosen des Ori­en­tie­rungs­verlustes und Beschreibungen der Vereinzelung. Auf derlei Phänomene müsste die politische Soziologie auch theo­retisch reagieren, indem sie einen Gesellschaftsbe­griff für sich nutzbar macht, der die Gleichzeitigkeit dieser Sinnangebote und Deutungen nicht gegeneinander ausspielt oder wegzuarbeiten versucht, son­dern gerade zur Grundlage der theo­retischen Untersuchung macht. Im Anschluss an Niklas Luhmanns Theorie der Politik würde die Frage dann lauten: Wie kann kollektive Bindung unter der Bedingung einer ausdifferenzierten Öffentlichkeit organisiert werden?