Kulturelle Gegenöffentlichkeit(en) in Russland
Von der späten Sowjetunion bis zur Gegenwart
Abstract
Das Projekt untersucht die Transformation der kulturellen Gegenöffentlichkeit in Russland von der späten Sowjetzeit bis zur Gegenwart anhand der alternativen Kunstprojekte der 2000-2010er Jahre. Dabei interessieren, zum einen, die neuen Medien und Verfahren, die die Ästhetik dieser Projekte formen, zum anderen, die Entwicklung, die alternative Kunst und Literatur seit der späten Sowjetzeit erfuhr und die ihre Sichtbarkeit vor dem Hintergrund der veränderten Medien und „Poetiken“ der staatlichen Selbstrepräsentation bedingen. Diese Fragestellung nimmt die Zeitabschnitte unter die Lupe, die eine „Kräfteasymmetrie“ zwischen Staats-/Regierungsmacht und künstlerischem Individuum besonders deutlich aufweisen und deshalb eine bisher unerforschte Entwicklung in den Strategien, Ästhetiken und Praktiken der kreativen Devianz markieren: Die spätsowjetische Periode führt an das Russland der 2000-2010er Jahre heran.
Neben dem Wiederaufleben sowjetisch tradierter Formen der Öffentlichkeit, leiteten neue „politische Technologien“ im Russland der Gegenwart auch eine neue Epoche des Dissens’ ein. Die im Projekt geplante Historisierung des russischen Dissens’ beruht auf der These, dass die Verwendung der neuen (Multi-)Medien und die Politisierung der ästhetischen Räume, die die alternative Kultur heute auszeichnen, einerseits auf die Kulturvorbilder der 1970er- bis 1990er Jahre zurückgreifen, andererseits auf die neuen Mechanismen und Strategien der Öffentlichkeitsformierung der 2000-2010er Jahre reagieren. Die diskursive Kulisse der neuen Gegenöffentlichkeit sind russische Massenmedien, die Propaganda und Zensur mit einer kontaminierten Version der neoliberalen „Psychopolitik“ (Pyŏng-ch'ŏl Han 2014) verbinden.
Die Verhältnisse zwischen dem ästhetisch Anderen und politisch Devianten werden in Russland diskutiert und immer neu erprobt. Tatsächlich entwickeln sich die heutigen Gegenkulturen im Vergleich zur späten Sowjetzeit in einem anderen soziokulturellen Kontext. Verstörende, ja subversive Ästhetiken von früher ‒ Kunst des Hässlichen und des Schockierenden; Soz Art; Konzeptualismus u.a. ‒ etablierten sich bereits Anfang der 1990er Jahre. Seit 2000 lösen sich die alternativen Kulturäußerungen potenziell im Mainstream auf, der nicht nur den Regierungsstil nachahmt, sondern auch post-avantgardistische Kunststilistiken domestiziert. In der Situation der neuen Polarisierung des nonkonformen künstlerischen Individuums einerseits und der Macht/der Mehrheit andererseits stellt sich deshalb erneut die Frage nach der Sichtbarkeit und (außer-)ästhetischen Wirkung der Kunst, nach der Radikalität, der öffentlichen (Nicht-)Präsenz und dem Elitarismus.
Die alternative Kultur positioniert sich heute sowohl in öffentlichen Räumen der Städte als auch in virtuellen Räumen der Internetplattformen. Sie entwickelt – hier durchaus ähnlich wie in der spätsowjetischen Zeit – ihre eigenen Lebensweisen und Subkulturen, gründet alternative Veröffentlichungsorgane und formt ihr alternatives Publikum. Im Kontext der veränderten Öffentlichkeitsstrukturen (etwa der forcierten Fernsehpolitik) behauptet die Gegenkultur ihre Präsenz zunächst in multimedialen Präsentationen, die Praktiken der physischen Intervention in öffentliche und private Räume mit der selbstdeklarierten „Erforschung“ der digitalen Räume und Verfahren verbinden. Wichtig ist dabei der Rückgriff der Projektbeteiligten auf Theoretiker wie Jacques Rancière, Franklin R. Ankersmit, Herbert M. McLuhan, Alain Badiou und Jaques Derrida (v.a. „Marx’ Gespenster“). Ein markantes Ergebnis dieser Multimedialität und Autoreflexivität des künstlerischen Diskurses sind kreative Kollektive, in denen die Künstler, Kulturtheoretiker, Philosophen und Historiker zusammenkommen.
Im geplanten Vorhaben sollen zwei Projekte analysiert werden, die sich gegenüber der bestehenden kulturellen und politischen Ordnung als „linke“ Gegenkulturen positionieren und Körper, Stadt- und Naturräume, aber auch Lesungen, Theatervorführungen, Filme und Ausstellungen als Medien der alternativen Äußerungen erproben. Ihre Internetplattformen sind „erweiterte“ Räume, in denen Kunst gemacht, kommuniziert, analysiert und veröffentlicht wird: 1) die Gruppe Was tun? (Čto delat’) und die gleichnamige Zeitung; 2) die Gruppe Laboratorium des Poetischen Aktionismus (Laboratorija Poėtičeskogo Akcionizma) und die Zeitschrift Translit.