Daedala lingua. Lukrez als Übersetzer des Realen
Abstract
Das Dissertationsprojekt versteht diese Verwandlung als Übersetzungsprozess in einem weiten und vierfachen Sinn:
- Lukrez übersetzt in seinem Werk die Lehre Epikurs aus dem Griechischen ins Lateinische,
- aus der philosophischen Prosa in die Epik,
- aus der Kultur des Hellenismus in diejenige der römischen Republik. Nicht zuletzt sucht er unaufhörlich nach Sprachbildern (simulacra) und sichtbaren Spuren/Zeichen (vestigia) der unsichtbaren Dynamik der Atome, durch die er
- die rerum natura, d. h. die Realität selbst, in einen Text zu übersetzten vermag.
Ziel der Arbeit ist es, diesen komplexen Transfer und die damit einhergehende Migration philosophischer Begriffe zu beleuchten. Dazu werden einige zentrale Konzepte untersucht, verbale Knotenpunkten, die Lukrez’ Poetik und Physik verbinden: Die Prozesse der Erleuchtung (inlustare), der Übertragung (transferre), der Mimesis (imitari), der Berührung (tangere), des Werdens (vertere) und der Abweichung (declinare).
Anhand dieser Konzepte gilt es zu zeigen, dass die sprachliche und kulturelle Übersetzungsleistung des römischen Dichters (1 bis 3) eine Ontologie impliziert (4), die schlussendlich diejenige Epikurs sprengt. Die kreative Sprache oder – um einen Ausdruck aus Lukrez’ eigener Sprachtheorie zu verwenden – die dädalische Zunge (daedala lingua) erweist sich dabei als entscheidendes Moment seiner physischen Poetik und poetischen Physik.