Aktivierender Staat und bürgerliche Lebensstile
Integrations- und Desintegrationseffekte einer Politik der feinen Unterschiede in der deutschen Bildungs- und Familienpolitik
Prof. Dr. Werner Georg, Dr. Frank Janning, Dr. Thilo Raufer
Abstract
Das Forschungsprojekt „Aktivierender Staat und bürgerliche Lebensstile. Integrations- und Desintegrationseffekte einer Politik der feinen Unterschiede in der deutschen Bildungs- und Familienpolitik“ versucht konzeptuelle und empirische Lücken zu schließen, die von einer getrennten Behandlung von sozialen Integrations- und Ungleichheitsphänomenen und von politischen Entscheidungsprozessen in dafür relevanten Politikfeldern (Bildungspolitik, Sozialpolitik, Familienpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Steuerpolitik etc.) herrühren.
In der Soziologie lassen sich zahlreiche Studien zur Sozialstrukturanalyse und zu den Statuskämpfen zwischen sozialen Lebensstilen, der Herstellung von sozialen Ungleichheiten und Statusattributen sowie den Integrations- und Desintegrationseffekten von sozialen Schliessungsmechanismen auffinden (Bourdieu 1982; Burzan 2004; Eickelpasch 1998; Georg 1998; Konietzka 1995; Lüdtke 1989; Müller 1992, 1995; Otte 2004; Schulze 1992; Spellerberg 1996). Der Beitrag von politischen Programmen und Entscheidungen zur Konstitution sozialer Ungleichheit und zur Integration der Lebensstile wird aber nur höchst selten oder höchstens im Hinblick auf allgemeine sozialstrukturelle Zusammenhänge reflektiert (Janning 1998; Kreckel 1992; Ritter 1997). Stattdessen werden in der Lebensstil-Forschung bislang hauptsächlich die sozialstrukturellen Aspekte von politischen Einstellungen und Präferenzen herausgestellt (Vester et al. 2001). Zur Vorhersage politischer Orientierungen und Verhaltensweisen (etwa Wahlverhalten) wurden in den 80er Jahren mehrere Lebensstil- und Milieutypologien entwickelt (z.B. Gluchowski 1988; SINUS 1992). Otte (2005) konnte zeigen, dass unterschiedliche politische Issues und einzelne Wahlalternativen zwischen politischen Parteien je nach inhaltlicher Ausprägung entweder durch die Klassenposition oder die Lebensstilzugehörigkeit besser vorhergesagt werden konnten.
In der Politikwissenschaft analysiert die Policy-Forschung die Entscheidungsprozesse in den gesellschaftlich relevanten Politikfeldern in minutiöser Genauigkeit, allerdings werden die sozialen Ordnungsmodelle, Lebensstilorientierungen und Integrationskonzepte, die in politische Maßnahmen und Gesetze einfließen, eher außen vor gelassen (Schneider/Janning 2006; Schubert 1991; Schubert/Bandelow 2003). Wenn überhaupt über die Voraussetzungen für programmbezogene Interessen und Präferenzen der Akteure reflektiert wird, werden diese höchstens mit politikfeldtypischen ordnungspolitischen Grundorientierungen, problemrelevanten Wissenstransfers und Deutungskonflikten oder allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen in Verbindung gebracht (Bleses/Rose 1998; Nullmeier 1993; Pioch 2000; Sabatier 1993, 1999).
Das Forschungsprojekt strebt an, eine solche, bislang fehlende Vermittlung zwischen Lebensstil-Soziologie und Policy-Forschung vorzunehmen. Auf konzeptueller Ebene sollen innovative Beiträge zur politischen Dimensionierung der einschlägigen Lebensstilbegriffe und –typen entwickelt sowie die gesellschaftliche Einbettung von Programmdiskussionen in Politikfeldern reflektiert werden. Eine theoretische Klammer stellt dabei der Regime-Begriff dar, der sowohl auf Regelsysteme in Politikfeldern als auch auf verhaltensregulierende Integrationsnormen im sozialen Raum (Lebensstil-Regime) Anwendung finden kann (Janning 2004, 2007). Der empirische Fokus richtet sich auf die Interdependenzen zwischen neuen und alten Lebensstilen und politischen Programmentscheidungen. Für die methodologische Vorgehensweise empfiehlt sich eine Nutzbarmachung und Integration avancierter quantitativer und qualitativer Verfahren und Forschungsansätze. Hierbei ist die Diskursanalyse und qualitative Inhaltsanalyse von politischen Programmdebatten, die Durchführung und Auswertung von Experteninterviews, die Messung, Berechnung und Interpretation von quantitativen Lebensstil-Indikatoren und die interpretative Rekonstruktion von Lebensstilkonzepten vorgesehen.
Das Projekt behandelt innovative Forschungsfragen in beiden (Sub-)Disziplinen. Für die soziologische Sozialstrukturanalyse lauten die Leitfragen: Welche Wirkungen haben politische Programme und Maßnahmen (policies) in ihrem materiellen wie ideellen Gehalt auf das Selbstverständnis und auf die Statusattribute von sozialen Lebensstilen und wie tragen politische Entscheidungen und die politischen Debatten zur Konstitution von Lebensstilen und zu ihrer Integration in eine Konfliktordnung oder Statushierarchie der feinen Unterschiede bei?
Analog dazu stellt das Projekt innovative Forschungsfragen für die Policy-Forschung: In welchem Umfang und in welcher Weise gehen Statusgesichtspunkte und Lebensstilkonzepte in die Programmdiskussion von Politikfeldern ein? Inwieweit spiegeln politikfeldspezifische Debatten und Konflikte die Kämpfe der sozialen Lebensstile um Anerkennung, Integration und Ausgrenzung?