Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Präfiguration und Pre-enactments

Politische und künstlerische Aktionsformen der Zukunft im Jetzt

Prof. Dr. Oliver Marchart

Abstract

Das Forschungsvorhaben stellt die Frage nach künstlerisch-performativen und politischen Praktiken der experimentellen Wiedergewinnung von „Zukunft“, Öffentlichkeit und Repräsentation. Zu diesem Zweck wird a) das performative Genre des Pre-enactments und b) die politische Strategie der Präfiguration untersucht, die in den letzten Jahren in sozialen Bewegungen zu Prominenz gekommen ist. Künstlerische wie politische Zugänge werden so hinsichtlich ihres Potentials einer experimentellen Vorwegnahme alternativer Handlungsformen durchleuchtet.

In jüngster Zeit hat das populäre Performancegenre des Re-enactments eine zeitliche Umkehrung erfahren: das Pre-enactment. Im Pre-enactment werden zumeist Phänomene der Gegenwart mit Mitteln der Performance und des Theaters kritisch-explorativ in die Zukunft fortgeschrieben. In einem radikaleren Sinn, wie etwa beim israelisch Performance-Kollektiv Public Movement, lässt sich Pre-enactment aber auch definieren als die künstlerische Antizipation eines künftigen politischen Ereignissen. Dies ist aus zweierlei Perspektive von Interesse: aus kunstwissenschaftlicher und aus politischer. Denn das Konzept des Pre-enactments gibt damit den jüngst ins Interesse gerückten performativen Praktiken der Probe, der Übung und des Trainings einen politisch-aktivistischen Spin und erinnert an den aus dem Civil Rights Movement der 1960er Jahre stammenden und mit den Sozialprotesten von 2011 prominent gewordenen Begriff der Präfiguration. Mit diesem soll gesagt sein, dass die egalitären und demokratischen Verhältnisse, für deren Verwirklichung protestiert wird, bereits in der Form der Proteste selbst vorwegzunehmen seien. Das setzt ein Politikverständnis voraus, das im Unterschied zu instrumentalistischen politischen Strategien zwischen Mittel und Zweck nicht trennt. In diesem Sinne verstehen sich die Protestierenden selbst als pre-enactors einer egalitären Zukunft, was ein gänzlich anderes Verhältnis zu politischer Temporalität erfordert: Auf eine zukünftige egalitäre Gesellschaft wird nicht vertröstet, sondern sie entsteht (und vergeht) im Prozess des Pre-enactment selbst (was etwa an Hannah Arendts performativen Politik- und Freiheitsbegriff erinnert). Ein vergleichbares Konzept wurde von Erik Olin Wright mit dem Konzept der „real utopias“ vorgestellt.

Auf diese Weise formulieren Pre-enactment und Präfiguration soziale Kritik als „possibility-disclosing practice“ (Nikolas Kompridis). Darin antworten sie auf den in den letzten Jahren immer wieder diagnostizierten „Verlust der Zukunft“, der mit der Kontraktion öffentlicher Räume deliberativer Versammlung und einem schwindenden Vertrauen in politische Repräsentation einherzugehen scheint. Vor diesem Hintergrund stellt das Forschungsvorhaben die Frage, in welch exemplarischer Form durch künstlerische Praktiken und politische Aktionsformen Ideen von „Zukunft“, Öffentlichkeit und Repräsentation wiedergewonnen werden können. Im Projekt sollen künstlerischer und politischer Zugang miteinander verglichen und auf ihr Potential der experimentellen Vorwegnahme alternativer Handlungs- und Verkehrsformen hin durchleuchtet werden.

Das Arbeitsvorhaben geht somit aus von den beiden Seiten des Repräsentationsbegriffs – Repräsentation als Vertretung und als Darstellung – und sucht nach Antworten auf aktuelle Formen der Repräsentationskritik. Das Konzept der Präfiguration wird als eine mögliche Antwort auf die Kritik an politischer Repräsentation (Vertretung), wie sie vor allem von sozialen Bewegungen formuliert wurde, untersucht: Präfiguration, so scheint es, schließt den Spalt zwischen Repräsentant und Repräsentierten (constituency), insofern die Aufgabe der politischen Zielbestimmung und -durchsetzung nicht etwa einer Vertretung überlassen, sondern in Form von Realutopien in der Gegenwart erfüllt werden soll. Das Konzept des Pre-enactment wiederum liefert eine Analogie im Bereich der künstlerischen Performance. Hier ist es die Idee von Repräsentation als Darstellung, die im Fahrwasser des post-dramatischen Theaters überwunden wird. Pre-enactments (jedenfalls im radikaleren Verständnis des Begriffs) stellen ein zukünftiges Szenario nicht bloß dar, sondern aktualisieren es experimentell im Rahmen der Performance – ob in zukünftigen Ereignissen dieses Experiment erneut aufgegriffen werden wird, bleibt aus Sicht der Performer offen.