Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Freuds Chimären

Zum Narrativ des Tieres in der Psychoanalyse

Lena Kugler

Abstract

Wenn es in meiner literaturwissenschaftlichen Doktorarbeit um das Tier und die Chimäre in der Freudschen Psychoanalyse geht – um das Tier als Narrativ, um das Tier als Chimäre –, dann nicht wegen der Flut an Einträgen, die eine gewöhnliche Internet-Recherche mit den zwei Suchworten „Chimäre“ und „Psychoanalyse“ ergibt: allesamt Notate, die das vermeintliche Lügengebilde der psychoanalytischen Hypothesen geißeln wollen. Um Kategorien der „Unwahrheit“ oder „Unwissenschaftlichkeit“ der Psychoanalyse geht es mir jedoch gerade nicht. Vielmehr soll der Blick gelenkt werden auf die Faktur des Tieres im „Bestiarium der Psychoanalyse“, wie Gary Genosko es bei der Freudschen Erfindung vom Unbewußten auszumachen meint, während Gilles Deleuze und Félix Guattari es ihr gerade absprechen wollen.

Als Wissenschaft vom Seelenleben des Menschen spricht die Freudsche Psychoanalyse nämlich erstaunlich oft von Tieren. Und in gewisser Weise läßt sich auch sagen, sie spreche sogar in Tieren, um einen Aphorismus Elias Canettis („Er denkt in Tieren wie andere in Begriffen“) wohl entschieden gegen dessen Willen auf den als seinen Gegenspieler ausgemachten Begründer der Psychoanalyse zu beziehen.

Der Beredtheit dieses Freudschen Bestiariums in seiner Narration vom Menschen – bevölkert von Sphingen, Pferden, dem einen Wolfsmann und den Wölfen, den Ratten(männern) auf ihren Übungsmärschen und gekreuzten Routen von Militär- und Postsystem – gehe ich in meiner Doktorarbeit nach und frage neben etwaigen anthropologischen auch nach ihren „zoologischen Visionen“.

Dabei ist die Konstruktion des Tieres bei Freud eine höchst komplizierte, in der sich verschiedene, in der Arbeit dargelegte Narrationsmodelle kreuzen.
Ausgangshypothese meiner Untersuchung ist hierbei, daß das Tier bei Freud

  • als Schreckenstier der verschiedenen Phobien und Zwänge,
  • als Paradoxie einer im Menschen lesbar gemachten Ursprungsnarration seiner selbst  (eingespannt in die Endlosschleife der Wiederholung von Ontogenese und Phylogenese und dem Sprung der Nachträglichkeit)
  • und als allererst in der Analyse hergestelltes Mischwesen zwischen Tier und Mensch (und Text), wenn mit dem Tier auch der Mensch als Ratten-Mann, als Wolfs-Mann aufgerufen wird und spricht, schon immer „die“ Chimäre ist: Also jenes Tier, dessen „monstrousness derived precisely from the multiplicity of animals, of the animot in her (head and chest of a lion, entrails of a goat, tail of a dragon)“, wie Jacques Derrida es ausführt.

 

Methodisch ist die Arbeit dabei zum einen der literaturwissenschaftlichen Basis-Operation schlechthin verpflichtet: der Textlektüre, läßt sich doch allererst mit ihr der (fundamentale/haltlose) Status des „Tieres“ in der Konstruktion der psychoanalytischen Theorie freilegen – und damit die ihr eingeschriebene Poetik des Un/Tiers entziffern.

Zum anderen werden aber auch kultur- und wissenschaftshistorische Kontextualisierungen vorgenommen: Wenn mit den Tieren der Diskurs der Massen und ihrer Verkehrsmittel, derjenige des Wechselrechts, der Juden-Eide oder der Immunologie aufgemacht wird, liest sich „das Tier“ nicht nur „mit Freud“. Vielmehr wird der Freudsche Diskurs auch „mit dem Tier“ und den durch ihn eröffneten Diskursen gelesen. Ob diese Lektüren bisweilen solche „gegen Freud“ sein mögen, ist hierbei nicht der Punkt. Was in diesem Geflecht sich überlagernder und widersprechender Diskurse vielmehr erscheint, ist nichts anderes als das chimärenhafte Potential der Psychoanalyse: Poetisch konstruierte Grenzwissenschaft auf der einen Seite, Erfahrungspraxis auf der anderen, läßt sie im Erzeugen der Chimären als ihrer Basis-Konstruktion den Menschen als allererst hybrides Mischwesen, als Un/Tier sich selbst aussprechen.