Shakespeare-Konjugationen
Transformative Dynamiken kultureller Formen auf der Bühne, mit Müller und Strauß
Abstract
Das Wort coniugatio dient zur Bezeichnung einer Verbindung als vorsätzlich herbeigeführter, eigens gestifteter Beziehung zwischen unterschiedlichen Bestandteilen oder Partnern, wie speziell einer Eheschließung, kann aber ebenso zur Bezeichnung einer bereits vorgängigen Zugehörigkeit wie der sog. etymologischen Stammverwandtschaft verwendet werden; überdies bezeichnet es die sprachliche Verbindung von Verbalstamm und -endung oder allgemeiner die Formenbildung eines Verbs zur Markierung von Tempus, Person, Numerus, Modus usw. als Merkmal flektierender Sprachen. Der umgangssprachliche Gebrauch, der hier von Beugung spricht, weist dabei schon die Handlungsgewalt, ja Machtgeste aus, die diesem Prozess als kulturelle Praxis unterliegt: coniugare kommt von iugum, 'Joch', und bedeutet ursprünglich 'zusammen unter ein Joch spannen, jochartig verknüpfen', wie eben zwei Ochsen oder andere Zugtiere unter einen Querbalken gespannt und zu gemeinsamer Arbeit in Dienst genommen werden.
Diesen Bedeutungsfährten folgend, fragt das vorgeschlagene Projekt zentral nach den Indienstnahmen Shakespeares in ausgewählten Stücken von Heiner Müller und Botho Strauß sowie nach der kulturellen Arbeit, die mit und an Shakespeare-Dramen zu leisten ist, wenn deren elisabethanische Spielformen des Tragischen und Komischen durch deutsch-deutsche Dramatiker der vergangenen Jahrzehnte reklamiert und transformiert werden – eine zeitgenössische Konjugation oder Beugung kultureller Formen, die sich mit Klaus Reichert (1998) als ‚fremde‘ qualifizieren lassen und dennoch in die performativen Prozesse aktueller Theaterunternehmungen eingehen. Zugleich fragt das Projekt, wie in den betreffenden Shakespeare-Stücken selbst immer schon Konjugationen gezeigt und vollzogen werden und so bereits stückintern zur krisenhaften Irritation eben jenes kulturellen Formenrepertoires beitragen, mit dem Fremdheit und soziale Bruchstellen regulär zur Bearbeitung gelangen. Zu solchen kulturellen, speziell rituellen Formen, die den sozialen Ordnungsentwurf sichern sollen und daher für den Handlungsverlauf der Tragödie bzw. Komödie entscheidend sind, zählen hier Praktiken wie Trauern oder Lieben, Ehren oder Schänden, Ehelichen oder Beerdigen. In dem Maße aber, wie ihre Funktion in die Krise kommt, da sie unter dem Druck von Veränderungen, die uns die Shakespeare-Stücke vorführen, nicht mehr recht zu greifen scheinen, müssen die Stücke allerlei Ersatzvorkehrungen mobilisieren und sie diversen Translationen unterziehen, um die gestörte Ordnung wieder herzustellen. Werden solche Formen also oftmals bereits auf der Shakespeare-Bühne als reformierte und reformulierte – und damit fortwährend im prekären Prozess einer translatio – ausgewiesen, gilt dies erst recht für deren Wiederkehr im Theater von Müller oder Strauß, das ihnen die Bühne nicht nur „in states unborn und accents yet unknown“ bereitet (wie es in Julius Caesar heißt, 3.1.114), sondern sprachlich wie performativ den Verkehr von und mit vorrätigen Spielelementen treibt. Müllers und Strauß‘ Shakespeare-Stücke sind daher kontrastiv-komparativ als Shakespeare-Konjugationen zu verhandeln, die vorsätzlich Beziehung stiften und Zugehörigkeit erkunden wollen, deren trans-formative Dynamik allerdings vor allem darin manifest wird, dass sie Verbindungen nur um den Preis von Verkehrung vornehmen. So wird Shakespeares eigenes Verfahren zur dramatischen Aneignung fremder Stoffe und Figuren von Rom bis Athen einer neuerlich verfremdenden Nachahmung unterzogen.
Besonders einschlägig für eine solche Untersuchung sind ANATOMIE TITUS FALL OF ROME EIN SHAKESPEAREKOMMENTAR (1984) und WALDSTÜCK (1969) von Heiner Müller sowie Schändung (2005) und Der Park (1983) von Botho Strauß, mithin vier Stücke, von denen sich jeweils zwei im Abstand von rund zwei Jahrzehnten auf dieselbe Shakespeare-Vorlage einlassen, nämlich die Rachetragödie Titus Andronicus und die Liebeskomödie A Midsummer Night’s Dream (beide zu Beginn der 1590er Jahre, in Shakespeares Anfangsphase als Theaterautor, entstanden), und deren Formen- und Figurenkonstellation sowie Plotkonstruktion und Sprache übersetzend einer Überprüfung unterziehen. Dieser Vorgang wird hier insgesamt als meta-adaptiv verstanden, denn er bietet einen neuen Blick auf vorgängige Prozesse, die in den Shakespeare-Stücken selbst gestaltet werden, Prozesse des Verbindens wie des Aufbrechens oder Unterbrechens von Verbindlichkeiten, Prozesse also, die wie Müller und Strauß eine Beziehung stiften und zugleich das Gewaltsame, das diesem Akt des Konjugierens innewohnt, ausstellen. Solche deutsch-deutschen Shakespeare-Konjugationen signalisieren somit ein Spektrum unterschiedlicher, aber zusammenhängender Bildungs- und Bindungsmaßnahmen: Shakespeare wird flektiert und transformiert – so wie Shakespeares Theater in der Frühen Neuzeit selbst der Flexion und Transformation kultureller Prägeformen, die es vornehmlich einem antiken Überlieferungsbestand entnimmt, zuarbeitet und diesen Prozess auch immer wieder selbstreflexiv vorführt. Was hier als Konjugation von Shakespeare-Dramen bezeichnet und untersucht werden soll, ist daher kein fakultativer Vorgang, der ihnen wie von außen zukommt, sondern wird immer schon in und mit ihnen vollzogen.
Dabei lassen sich die genannten Stücke durch die Wahl ihrer Schauplätze zugleich als theatrale Modellanordnungen lesen: Rom und Athen stehen Shakespeares Zeitgenossen für unterschiedliche Strategien, die kulturellen Grundlagen von Integration zu gestalten – zwischen Einlassung, Vereinnahmung und Einverleibung einerseits sowie Ausgrenzung, Verabschiedung und Barbarisierung andererseits eröffnen sie weite Spielräume zur Auseinandersetzung mit historischer und kultureller Alterität. Wie lassen sie sich ausmessen und nutzen? Welche theatralen Praktiken und Formen finden darin statt? Wie unterscheiden sie sich in ihrer tragischen und komischen Ausprägung? Wie gelangen sie von der Shakespeare-Bühne ins deutsch-deutsche Theater von Heiner Müller sowie Botho Strauß? Und welche Transformationen und Funktionen kommen ihnen hier und heute zu? Durch solche Fragen angestoßen, verfolgt das Forschungsprojekt gestaffelte Erkenntnisziele:
Erstens will es anhand der genannten Beispieltexte philologisch und theatergeschichtlich ermitteln, mit welchen Bearbeitungsstrategien und Translationspoetiken Müller und Strauß sich auf Shakespeare eingelassen haben, und dazu die Kontexte, Funktionen, Wirkungsdimensionen und Wechselwirkungen ihrer Projekte erkunden; vergleichende Arbeiten hierzu sind, trotz prominenter Einzeluntersuchungen zu den Autoren, erstaunlich rar;
zweitens will es die politische und kulturelle Relevanz klären, die solchen Shakespeare-Einlassungen oder -Heimsuchungen vornehmlich in Zeiten der deutsch-deutschen Teilung zukommt; Müllers vielzitierte Hoffnung, irgendwann in eine Welt zu gelangen, die Shakespeare „nicht mehr reflektiert“, signalisiert den akuten Problemdruck einer Erinnerungskultur, die sich immerfort durch einen Untoten vorherbestimmt sieht („Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsere Stücke schreibt“);
drittens richtet es den Blick auf die gestischen, gesellschaftlichen und rituellen Vollzugsformen, mit denen Titus Andronicus und A Midsummer Night’s Dream die Krisen und Konflikte im Gemeinwesen Roms bzw. Athens in der Übergangsphase nach einem siegreich beendeten Krieg, doch vor dem inneren Friedens-schluss, bearbeiten; dabei zeigt es, wie diese Formen selbst zunehmend kritisch oder fraglich werden, mutmaßlich weil sie der zunehmenden kulturellen Mobilität, die beide Stücke zugleich registrieren und vorführen, nicht mehr entsprechen können;
viertens will es das gesamte Untersuchungskorpus von sechs Stücken paradigmatisch wenden und als Beispielfall zur Untersuchung kultureller Grundlagen von Integration diskutieren und durchdenken. Dafür ist entscheidend, dass im Handlungszentrum aller untersuchten Dramen eine problematische Eheschließung steht, bei der die Frau – die Gotenkönigin Tamora bzw. die Amazonenkönigin Hippolyta – als unterlegene Feindin und als Fremde ausgewiesen ist und dennoch durch Heirat zu Herrscherrang im neuen Staat gelangen soll; die Shakespeare-Konjugationen von Müller und Strauß bearbeiten also zugleich eine spannungsvolle coniugatio, die Aufschluss über die Friktionen und Transformationen verspricht, die durch die Aufnahme von Fremdheit ausgelöst werden.