Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Parlamentarische Repräsentation ethnischer Minderheiten in den neuen Demokratien Osteuropas

Prof. Dr. Peter Selb, Julian Bernauer

Abstract

Die durch den Zusammenbruch der Sowjetunion ausgelöste Welle der Staatenbildung in den 1990er Jahren wurde zum Teil von blutigen ethnischen Auseinandersetzung begleitet. Diese Entwicklungen entfachten innerhalb der vergleichenden Politikwissenschaft eine bis heute andauernde Debatte, welche demokratischen Institutionen zur Kanalisierung und friedfertigen Austragung solcher Konflikte beitragen können. Unumstritten ist dabei die Annahme, dass eine adäquate politische Repräsentation ethnischer Minderheiten unabdingbar ist, und dass daher vor allem die Ausgestaltung des Wahlsystems eine zentrale Rolle in der Verfassungsgebung spielt (siehe z.B. Lijphart 1990; Norris 2004; Reilly und Reynolds 1999; Sartori 1994).

Weit weniger Einigkeit herrscht hingegen darüber, was genau adäquate politische Repräsentation bedeutet und mittels welcher wahlsystemischer Mechanismen diese am besten zu erreichen ist. Der Orthodoxie entsprechend sind proportionale Wahlsysteme (PR) gegenüber Mehrheitswahlsystemen zu bevorzugen. PR-Systeme, so die Argumentation, setzen geringere Repräsentationshürden und geben ethnischen Minderheiten daher Anreize zur Gründung eigener Parteien, welche die Gruppen bei proportionaler Übersetzung von Wählerstimmen in Parlamentssitze entsprechend ihrer Bevölkerungsanteile legislativ vertreten, was wiederum eine friedvolle Kanalisierung ethnischer Konflikte erleichtert (z.B. Lijphart 1990).

Kritiker dieser Argumentation wenden ein, dass die parlamentarische Repräsentation ethnischer Minderheiten durch eigene Parteien Konflikte zementiert, anstatt diese zu lösen. Zu bevorzugen seien daher Mehrheitssysteme, die hohe Repräsentationshürden für ethnische Parteien setzen, gleichzeitig aber den größeren Parteien Anreize bieten moderate Kandidaten ins Rennen zu schicken, die über die Grenzen von Volksgruppen hinaus mehrheitsfähig sind, um so die Kooperation – und nicht die Konkurrenz – zwischen den ethnischen Gruppen zu stärken (z.B. Horowitz 1993; Reilly und Reynolds 1999).

Ganz offensichtlich fußen diese beiden gegensätzlichen Positionen auf unterschiedlichen Konzeptionen der adäquaten Repräsentation von Minderheiten. Während die majoritäre Position eher von einem inhaltlichen Repräsentationskonzept ausgeht, stellt die proportionale Vision stärker auf die deskriptive Repräsentation, d.h. die parlamentarische Vertretung durch Mitglieder der eigenen Gruppe, ab (Mansbridge 1999; Pitkin 1967). Letzteres taten ganz offensichtlich auch die meisten Verfassungsväter und –mütter in den neuen Demokratien Osteuropas: In sämtlichen Staaten wurden proportionale oder gemischt-proportionale Wahlsysteme (wie z.B. das deutsche) etabliert; in einigen Ländern gelten zusätzlich spezielle Regelungen für ethnische Minderheiten, wie beispielsweise die Einrichtung ethnischer Wahlkreise oder die Aufhebung von formalen Prozenthürden (siehe Htun 2004; Lijphart 1986).

Vor diesem Hintergrund stechen bei Betrachtung der tatsächlichen Vertretung ethnischer Minderheiten in ost- und mitteleuropäischen Parlamenten insbesondere zwei Beobachtungen ins Auge (siehe z.B. Alonso und Ruiz-Rufino 2007), die die primäre Motivation für die vorliegende Projektskizze liefern.

Erstens gibt es hinsichtlich der deskriptiven Repräsentation ethnischer Minderheiten trotz relativ ähnlicher Wahlsysteme enorme Unterschiede zwischen den Ländern. So sind in einigen Ländern wie beispielsweise den baltischen Staaten Minderheiten parlamentarisch deutlich untervertreten, während sie etwa in Albanien und Kroatien mehr oder weniger verhältnismäßig und in der Ukraine sogar leicht überproportional repräsentiert sind.

Zweitens gibt es innerhalb einiger Länder drastische Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen. Darüber hinaus sind einzelne ethnische Gruppen wie die Roma über die Länder hinweg parlamentarisch untervertreten. Diese Beobachtungen bringen die bisherige vergleichende Forschung mit ihrem fast ausschließlich makroskopischen Augenmerk auf Wahlsysteme in argen Erklärungsnotstand (siehe auch Bird 2005; Htun 2004). Daher wird hier vorgeschlagen, den analytischen Fokus auf die Ebene der ethnischen Gruppen zu verlagern. Deskriptive parlamentarische Repräsentation wird dabei verstanden als Ergebnis des Wechselspiels zwischen institutionellen Opportunitätsstrukturen einerseits und sozialen Gruppen mit spezifischen Interessen und Ressourcen andererseits (z.B. Kriesi et al. 1992).

Konkret soll untersucht werden, welche Effekte etwa die Gruppengröße, die geografische Verteilung, die Mobilisierungsressourcen oder die kulturelle Ähnlichkeit mit der ethnischen Mehrheit im Zusammenspiel mit den institutionellen Anreizen und Hürden auf die parlamentarische Vertretung von Minderheiten haben. Im Gegensatz zu bisherigen Studien, die theoretische Anleihen an die soziale Bewegungsforschung machen (z.B. Bird 2005), soll hier aber eine systematisch vergleichende und primär quantitative Perspektive beibehalten werden.