Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Pauperismus und Exklusion

Theoretisierungsversuche extremer Armut in der frühen und neueren Soziologie

Johannes Scheu

Abstract

Die spätestens in den 1990er Jahren einsetzende soziologische Debatte um Phänomene der Prekarität, Überflüssigkeit und sozialen Exklusion ist – ob in ihrer theoretischen oder sozialpolitischen, ihrer neutral-analytischen oder in ihrer sozialkritischen Ausrichtung – durch einen auffallenden Gegenwartsbezug geprägt, dessen historischer Radius sich zumeist in der Fokussierung der Prosperitätsphase westlicher Nachkriegsgesellschaften erschöpft. Das geplante Dissertationsprojekt will diesen Radius überschreiten und demgegenüber gerade dadurch einen Beitrag zur aktuellen Theoriedebatte über Prekarität und soziale Ausgrenzung leisten, als es diese auf ihre Historizität hin befragt.

Im Fokus einer solchen Historisierung – die im Feld der Exklusionstheorien immer noch ein weitgehendes Desiderat darstellt – steht dabei insbesondere das Phänomen des Pauperismus, über dessen Beschreibungsversuche sich der Konstitutionsprozess der Soziologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich vollzieht. Durch die Konzentration auf die Exklusionsdebatte des späten 20. Jahrhunderts einerseits sowie auf die Pauperismusthematik des frühen 19. Jahrhunderts andererseits wird somit ein soziologisches Kontrastfeld aufgespannt, in dem die gegenwärtige Soziologie im Spiegel ihrer historischen Anfänge betrachtet wird. Die frühsoziologische Auseinandersetzung mit dem „Gespenst des Pauperismus“ (W. Riehl) ist für die gegenwärtige Debatte um Phänomene der sozialen Exklusion hierbei besonders deshalb interessant, da das Phänomen der Armut am Übergang zum 19. Jahrhundert zum ersten Mal als Problem – genauer: als ein genuin gesellschaftliches Problem – zu erscheinen beginnt, das die soziale wie epistemologische Ordnung des 19. Jahrhunderts in höchstem Maße irritiert. Einem roten Faden gleich begegnet der Leser in Texten über den Pauperismus einer Insistenz auf der genuinen Neuartigkeit dieses Phänomens, das sich keinesfalls mit dem „Armenwesen“ (L. Stein) vergangener Zeiten gleichsetzen lasse und für das es deshalb neue – sozialpolitische wie wissenschaftliche – Lösungen zu finden gelte. Und es ist im Kern eine genau solche „Problematisierung“ (M. Foucault), von der aus auch die sozialwissenschaftliche Exklusionsdebatte des späten 20. Jahrhunderts ihren Ausgang nimmt. Beim Phänomen der Exklusion, so etwa Niklas Luhmann, begegnet die Sozialwissenschaftlerin einer neuen Ausprägung des menschlichen Elends, das sich allen bekannten Formen soziologischer Gegenwartsbeschreibung entzieht. In der ersten Hälfte des 19. sowie auch am Ende des 20. Jahrhunderts zeichnet sich in den sozialwissenschaftlichen Debatten um Phänomene des Pauperismus und der Exklusion somit eine epistemologische Krise ab, in deren Folge sich der sozialwissenschaftliche Blick auf Armut in seiner Theoretizität grundlegend neu konstituiert.

Der soziologietheoretische Gewinn einer Historisierung der gegenwärtigen Exklusionsdebatte kann vor diesem Hintergrund nun präzisiert werden. Die Kontrastierung zur Pauperismusdebatte des 19. Jahrhunderts verdeutlicht nämlich, dass es – bei aller historischen, politischen und sozialen Differenz beider Problemkontexte – auf einer epistemologischen Ebene auffallend ähnlich gelagerte Theoriemomente und Reflexionsschübe sind, die infolge der sozialwissenschaftlichen Verarbeitung jener beiden Krisen in Gang gesetzt werden und somit in der Problematisierung des Analyseobjekts Armut selbst begründet zu liegen scheinen. In der gegenwärtigen Diskussion über Phänomene der Prekarität, Überflüssigkeit und sozialen Exklusion lassen sich – trotz der Aktualität und sozialen Brisanz einer Gegenwartsproblematik – Argumentationsmuster, epistemische Figuren und Topoi wiederfinden, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, d.h. bis in die durch den Pauperismus ausgelöste Krise der jungen Sozialwissenschaft zurückreichen.