Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Wartezeiträume um 1900

Zeitstrukturen, Raum- und Machtordnungen im Zeichen des Transitären

Katharina Baier

Abstract

Das Dissertationsprojekt befasst sich mit der symbolischen Struktur von Wartezeiten. Dabei geht es der Frage nach, inwiefern das Warten und Wartenlassen als ein Prinzip des dauerhaften „Zeitmangels im Überfluß“ (Maurice Blanchot 1964, S. 74) sich in literarischen Texten des frühen 20. Jahrhunderts niederschlägt und mit Mechanismen der Machtausübung diskursiv verschränkt wird.

Das Wartenlassen als „ständiges Vorrecht jeder Macht“ und „jahrtausendealter Zeitvertreib der Menschheit“ (Roland Barthes 1988, S. 100) bildet einen elementaren Bestandteil des Funktionierens und der symbolischen Ordnung von Institutionen. Wartezeiträume existieren nicht per se: Sie vollziehen sich in einem unausgesprochenen Pakt zwischen Wartenden und höheren Instanzen, die auf sich warten lassen. Dieser Pakt, der nach Albrecht Koschorke auch als Form der „imaginären Zuerkennung von Seiten der Beherrschten“ (Koschorke 2002, S. 75) verstanden werden kann, manifestiert sich, so die Ausgangsthese, zum einen zeitlich, indem sich die als angestaut wahrgenommenen Wartezeit in einer radikalen Fühlbarkeit auf das innere Zeitempfinden der Wartenden auswirkt. (vgl. dazu Annette Keck 2002, 189 ff.)

Darüber hinaus konstituiert sich die stumme Wirksamkeit des Paktes auf einer räumlichen Ebene: Einerseits, weil sich das asymmetrische Machtgefüge zwischen Wartenden und Instanzen, die auf sich warten lassen, über die räumliche Ordnung der Vorzimmer konstituiert. (vgl. dazu insbesondere Carl Schmitt 1954, S. 19) Andererseits, weil der räumlich-perspektivische Aspekt der Wartezeit bereits etymologisch eingeschrieben ist, und über die jeweilige Blickkomponente transportiert wird. So liest man im Grimmschen Wörterbuch: „warten hiesz ursprünglich schauen [...] der wartende schaut nach etwas, harrt bis es kommt.“ (Grimm, 1984 [1838-1961], Bd. 3, Sp. 1044)

Institutionalisierte Wartezeiten werden um 1800 insbesondere im Zuge der bürokratischen Entwicklung erzeugt, schlagen sich aber erst um 1900 auf einschlägige Weise in einem neuen Genre, den „Romanen der Institution“ (Campe 2004, 197 f.), wie Franz Kafkas „Proceß“- und „Schloß“-Romanen, Robert Musils „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ oder Thomas Manns „Zauberberg“ nieder. Damit geht gleichzeitig eine Umstellung in der historischen Semantik des Wartens einher, das sich von der positiv konnotierten Erwartung im Sinne einer „Utopie der Erfüllung“ (Pikulik 1998, S. 30) löst, als ein Zustand sensorischer und psychologischer Deprivation nach innen kehrt, und das Warten wiederum mit eigenem Imaginationspotential ausstattet.

Ziel des angestrebten Dissertationsprojekts ist es, im Rahmen des Doktorandenkollegs „Zeitkulturen“ durch die Analyse der genannten einschlägigen literarischen Werke um 1900 zu zeigen, wie Zeitordnungen des Wartens im Zusammenspiel der Machtgefüge von Institutionen immer wieder neu konstituiert werden.

Die Fragestellung zielt zudem auf die narrative Umsetzung von Warteszenerien ab. Der Dauerzustand des Wartens als „Ereignis ohne Ereignis“ (Jacques Derrida 1992, S. 56) und – vermeintliche ‒ Abwesenheit von Handlung stellt eine Herausforderung an die Gestaltung des Erzähldiskurses dar, da Erzählen als grundlegende Form der kulturellen Konstruktion von Zeit (A. Assmann 2006, S. 131) primär mit Handlung, Dynamik und Veränderung einhergeht. (vgl. dazu insbesondere Schardt, 1995, S. 61 ff.)

Literatur

Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006.

Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt am Main 1988.

Blanchot, Maurice: Warten Vergessen, aus dem Französischen von Johannes Hübner, Frankfurt am Main 1964.

Campe, Rüdiger: Kafkas Institutionenroman. Der Proceß, Das Schloß, in: RüdigerCampe, Michael Niehaus (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider, Heidelberg 2004, S. 197-209.

Derrida, Jacques: Préjugés. Vor dem Gesetz, aus dem Französischen von Detlev Otto und Axel Witte, Wien 2005.

Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 3, Nachdruck München 1984.

Keck, Annette: Versuchungen. Zur modernen Defiguration von Warteraum und Geschlecht, in: Dietmar Schmidt (Hg.): Körper Topoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen, Weimar 2002, S. 189-208.

Koschorke, Albrecht: Macht und Fiktion, in: Thomas Frank u.a. (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 73-85.

Pikulik, Lothar: Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten. An Beispielen aus Geistesgeschichte, Literatur und Kunst, Göttingen 1998.

Schardt, Reinhold: Narrative Verfahren, in: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger u.a. (Hg.): Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995.

Schmitt, Carl: Gespräche über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen 1954.