Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Geschichte des Ungeborenen in der Moderne

Interview von Brigitte Elsner-Heller

Caroline Arni

Wie Ungeborene von Umweltfaktoren geprägt werden, wird zurzeit intensiv erforscht – was sich unter anderem in einer umfangreichen Ratgeberliteratur für werdende Mütter widerspiegelt.
Caroline Arni, die an der Universität Basel Allgemeine Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lehrt, führt am Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz ein wissenschaftsgeschichtliches Projekt weiter, das sich mit Vorstellungen über das „Ungeborene“ in Physiologie, Medizin und Psychologie befasst. Ein Schwerpunkt ihres Interesses liegt darin, die Geschichte der Idee einer pränatalen Prägung nachzuverfolgen.

Heute gehen wir wie selbstverständlich davon aus, dass Ungeborene von der Lebensführung der Schwangeren geprägt werden können. Wie neu ist diese Idee überhaupt?

Die Vorstellung, dass die Umstände von Zeugung und Schwangerschaft das kommende Kind dauerhaft prägen, ist sehr alt und kulturell weit verbreitet. Sie findet sich in der griechisch-lateinischen Antike, in der jüdisch-christlichen und der islamischen Tradition, sie findet sich auch in nicht-europäischen Kulturen. In Europa wurde diese Idee besonders intensiv im 17. und 18. Jahrhundert diskutiert, wobei Prägung hier als „Impression“ oder „Versehen“ gedacht wurde.

Man nahm an, dass visuelle Eindrücke und auch vorgestellte Bilder, die mit einer heftigen Gefühlsempfindung verbunden sind, für Ähnlichkeiten, Muttermale und Missbildungen verantwortlich sind. 1688 schildert der französische Gelehrte Nicolas de Malebranche den Fall eines Pariser Neugeborenen, das Knochenbrüche aufwies, wie sie bei einem Geräderten auftreten – weil die Mutter während der Schwangerschaft einer solchen Hinrichtung beigewohnt hatte. Dem „männlichen Mentalen“ wurde eine solche Prägekraft auch zugeschrieben, allerdings nur für den Moment der Zeugung.

Das „Mentale“ als Begründung des prägenden Einflusses klingt für uns heute wenig greifbar. Wie kann man sich das vorstellen?

Detail eines gezeichneten Embryos
Detail aus: Samuel Thomas Soemmerring, Icones ­embryonum humanorum (Abbildungen des menschlichen Embryos), Frankfurt a. M., 1799.

Diese Vorstellungen setzten zunächst auf immaterielle Kräfte. Zunehmend aber galt es, den Wirkungszusammenhang stofflich zu denken, wobei man davon ausging, dass das ungeborene Kind mit dem Mutterleib eine organische Einheit bilde, besonders in Form von geteilten Blut- und Nervenbahnen. Im 18. Jahrhundert geriet diese Vorstellung in die Kritik. Als William Hunter 1774 das Vorhandensein zweier getrennter Blutbildungs- und Blutzirkulationssysteme nachweisen konnte, war den Hypothesen eines Transports von bildhaften „Impressionen“ von der Mutter zum Kind die organische Grundlage weggebrochen.

Die allgemeine Vorstellung aber, dass das „Mentale“ der Frau auf den embryonalen Organismus einwirke, verschwand nicht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts argumentierte der französische Arzt Jean-Baptiste Demangeon, dass keine „nervliche Kommunikation“ erforderlich sei. Vielmehr verändere sich die mütterliche Blutqualität in Abhängigkeit von ihren Gefühlen. Nun wurden Emotionen allein zum Wirkfaktor, und diese Vorstellung verfestigte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts und fand im frühen 20. Jahrhundert mit den Hormonen zu einer Substanz, in der das Fühlen der Schwangeren stofflich wurde. In diesem Sinn wird heute etwa der Einfluss von „Stress“ während der Schwangerschaft untersucht.

Der Embryo oder Fötus war für die Forscher bis dahin gewissermaßen „verborgen“, da er vom mütterlichen Körper umschlossen war. Wie änderte sich die Herangehensweise, und wann kam der Begriff des „Pränatalen“ auf?

Zunächst war es vor allem die Anatomie, die seit Ende des 18. Jahrhunderts die embryonalen Formen zu beschreiben begann und dazu tote Embryonen untersuchte. Doch auch das lebende Ungeborene interessierte. Damit befassten sich Physiologien wie etwa Johannes Müller, der 1820 trächtigen Schafen und Kaninchen lebende Föten entnahm und mit ihnen experimentierte, um zum Beispiel ihren Sauerstoffbedarf zu eruieren. Anders als die anatomische Beschreibung der embryonalen Form, konnte das physiologische Interesse an den Lebensäußerungen des Ungeborenen vom Mutterleib nicht absehen, der es ja mit jenen Stoffen versorgte, die es zum Leben brauchte. Deshalb wandten sie sich der maternal-fötalen Beziehung zu und konnten von hier aus „Einfluss“ denken.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts injizierte dann der französische Psychiater und Psychophysiologe Charles Féré toxische Stoffe oder Mikroben in trächtige Kaninchen oder Hühnereier, um herauszufinden, wie Vergiftungen oder Infektionen der Schwangeren auf das Ungeborene übergingen und welche „Entwicklungsstörungen“ sie dort bewirkten. Aus diesen Vorstellungen ging um 1900 die pränatale Pathologie hervor. Hier erschien die Schwangerschaft als eine Zeit des Einflusses.

Psychologen versuchten herauszufinden, ob der Embryo aus dem Mutterleib bereits erste Ansätze zu Psychischem – Gefühl, Wahrnehmung, Bewusstsein – mitbrachte.

Dabei rivalisierte nicht zufällig der zeitliche Begriff des Pränatalen mit dem räumlichen Begriff des Intrauterinen, wenn darüber gesprochen wurde, was dem Ungeborenen geschah: Der Akzent lag auf der Zeit, die das Geborene hervorbrachte, nicht auf dem Raum, in dem sich das Ungeborene befand. Schwangerschaft war nun die „erste Seite des Buches“, wie der Philosoph Bernard Perez schrieb, die auch Psychologen interessieren musste.

Diese entwickelten zur gleichen Zeit ein brennendes Interesse am Neugeborenen und versuchten herauszufinden, ob es aus dem Mutterleib bereits erste Ansätze zu Psychischem – Gefühl, Wahrnehmung, Bewusstsein – mitbrachte. Hier kam es zu bemerkenswerten Experimenten an „Ebengeborenen“, wie sie der Psychologe und Physiologe William T. Preyer nannte – der allerdings gerne über die „oft unüberwindlichen Schwierigkeiten klagte, die Trennung des Säuglings von seiner Mutter oder Wärterin zu bewirken“.

Mit dieser Vorstellung ändert sich doch zwangsläufig auch das Bild vom Menschen. Wie sehen Sie die gesellschaftspolitische Bedeutung dieser Entwicklung in der historischen Perspektive? Und wo stehen wir heute?

Wichtig ist, dass das Ungeborene auch schon vor den modernen Humanwissenschaften und ihrem Konzept des Pränatalen ein Leben vor der Geburt hatte (und zum Kind wurde) – ab dem Moment nämlich, in dem es beseelt wurde oder seine Regungen von der Schwangeren vernommen werden konnten. Das war aber ein fester Zeitpunkt und nicht ein Prozess, der als „Entwicklung“ aus dem Keim einen Embryo, aus dem Embryo einen Fötus, aus dem Fötus einen Säugling und aus dem Säugling ein Kind macht.

Solche Entwicklung ist kontinuierlich, und es ließ sich nun nicht mehr so einfach sagen, wann da eigentlich mehr ist als Organismus und was das bedeutet. Diese Frage beschäftigt uns heute als die Frage nach dem rechtlichen Status des Ungeborenen, als Embryo oder Fötus. Und es ist im Kern eine ontologische Frage: Was ist das Ungeborene im Verhältnis zum Geborenen?

Aber zurück nochmals zur pränatalen Prägung: In dem Maß, in dem Schwangerschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer Zeit der Einflussnahme und als solche Gegenstand präventiver Medizin wurde, verschränkten sich Gegenwart der Schwangeren und Zukunft des Kindes. Das „Pränatale“ überblendet gewissermaßen zwei Biografien. Das hatte um 1900 Konjunktur, und es hat heute Konjunktur. Allerdings wurden um 1900 stark „schädliche“ Lebensbedingungen bestimmter Gruppen von Schwangeren problematisiert (zum Beispiel der Fabrikarbeiterinnnen), während es heute um eine als optimierungsbedürftig angesehene Biografie des einzelnen Kindes geht, dem sich die Lebensführung der schwangeren Frau zu verpflichten hat. Nicht zufällig präsentieren zahlreiche kommerzielle Angebote Schwangerschaft heute als ein eigentliches Bildungsprogramm.

Das Gespräch führte Brigitte Elsner-Heller.

Vortrag

Caroline Arni hielt am 22. Oktober 2015 den Vortrag zur Eröffnung des akademischen Jahres am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz.

Sie können hier den Mitschnitt des Vortrages „Un/Geboren. Eine historische Anthropologie der Entwicklungswissenschaften“ hier anhören: