„Bürgerengagement muss manchmal ungemütlich sein“
Interview mit Larissa Fleischmann
Was hat die vielen Freiwilligen in den letzten beiden Jahren motiviert, Flüchtlinge zu unterstützen?
Fleischmann: Das Bild der Krise, das vor allem 2015 in den Medien sehr präsent war, hat die Hilfsbereitschaft sehr vieler motiviert: „Hier ist ein Ausnahmezustand, wir haben eine ganz besondere Situation und müssen helfen.“ Eine meiner Interviewpartnerinnen hat die Situation einmal mit dem Jahrhunderthochwasser der Elbe verglichen, über das die Medien ebenfalls sehr viel berichtet hatten. Damals nahmen auch viele Anteil am Schicksal der Betroffenen, boten Hilfe an und spendeten sehr viel.
Obwohl ich den Vergleich mit einer Naturkatastrophe für problematisch halte, zeigen beide Beispiele, wie sehr die mediale Berichterstattung und die Wahrnehmung einer Krise die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung beeinflussen. Die individuellen Motivationen unterscheiden sich jedoch stark. Mir sind viele ältere Leute begegnet, die etwas Sinnvolles machen und wieder am sozialen Leben teilhaben wollten, also letztlich eine neue Lebensaufgabe suchten. Oder Studierende, die selbst eine Weile im Ausland gewesen waren und erfahren hatten, wie es ist, neu in einem anderen Land zu sein. Das motivierte sie, nun anderen zu helfen.
Bilder von begeisterten Willkommensszenen an deutschen Bahnhöfen gingen um die Welt.
Fleischmann: Dass so viele Menschen den ankommenden Flüchtlingen jubelnd entgegenliefen oder auch Getränke verteilten, verstärkte ein fast schon selbstverliebtes Bild von Deutschland als offene und tolerante Nation. Auch internationale Medien stellten Deutschland oft als Vorbild dar und lobten die progressive Haltung der deutschen Bevölkerung.
Dies ist jedoch ein zu einseitiges Bild, da weiterhin sehr viele Rassismen in Deutschland präsent sind, ob sie sich nun in den ‚Abendspaziergängen‘ von Pegida oder in subtileren Formen ausdrücken. Und auch auf der politischen Agenda wurden massive Asylrechtsverschärfungen auf den Weg gebracht, noch während die Medien die Willkommenskultur feierten. Manche Wissenschaftler kommentierten, dass sich die Rechtslage von Asylsuchenden nun auf dem schlechtesten Niveau seit den 90er-Jahren befände, zum Beispiel durch die Einführung der Wohnsitzauflage, die Geflüchteten den Wohnort vorschreibe, und sie so darin behindere, ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland zu führen.
Haben die Flüchtlingshelfer darauf reagiert?
Fleischmann: Ganz wenige und genau das war das Überraschende daran. Die Ehrenamtlichen gingen eben nicht gegen die starken Asylrechtsverschärfungen auf die Straße, Proteste blieben weitgehend aus. Das liegt daran, dass viele Ehrenamtliche ihr Engagement nicht als politisches Statement betrachten wollen: „Wir helfen nur, aber mit der Politik wollen wir nichts am Hut haben.“ So verstanden würden die Hilfstätigkeiten der Ehrenamtlichen in einem unpolitischen Vakuum ablaufen, was natürlich nicht der Fall ist. Im Gegenteil kann es als Zustimmung zu den problematischen Gesetzesverschärfungen gedeutet werden, wenn jemand darauf nicht reagiert und sich enthält.
Verlief ihre Zusammenarbeit mit den Behörden vor Ort entsprechend reibungslos?
Fleischmann: Viele meiner Interviewpartner äußerten das Gefühl, dass sie nicht richtig ernst genommen würden von den Behörden vor Ort. Auf der einen Seite waren sie nützlich, weil sie dann einsprangen, wenn die staatlichen Behörden überfordert waren, aber auf der anderen Seite wurden sie nicht als Mitentscheider wahrgenommen, so ihr Argument. Viele Ehrenamtliche, die sich selbst als unpolitisch bezeichneten, hätten dann doch gerne ein Mitspracherecht gehabt oder Entscheidungen bezüglich der Flüchtlinge mit getroffen, sei es im Landkreis oder in der Stadt.
Das Engagement lässt demokratische Prozesse auf lokaler Ebene wieder aufleben.
Wenn die Menschen dann plötzlich merken, dass vor Ort viele Dinge passieren, die sie eigentlich nicht so toll finden, und sich dagegen einsetzen wollen, sehe ich darin ein großes politisches Potenzial. Das lässt demokratische Prozesse auf lokaler Ebene wieder aufleben. Eine Mitarbeiterin des Sozialministeriums Baden-Württemberg hat mir dies bestätigt: Sie empfände es als eine große Chance, durch die Flüchtlingsdebatte wieder mehr Leute auf lokaler Ebene in die Politik zu bringen und gegen Politikverdrossenheit anzukämpfen.
Wo verläuft die Grenze zwischen humanitärer Hilfe und politischem Aktivismus?
Fleischmann: So einfach ist diese Grenzziehung in der Praxis nicht. Ehrenamtliche werden ja durchaus aktiv, indem sie Beschwerdebriefe an das Landratsamt schreiben, sich an die Zeitung wenden oder versuchen, den Transport von einem Flüchtlingsheim in das andere zu verhindern, wie beispielsweise in Offenburg. Dort sollten Asylsuchende von einer Stadthalle in ein Containerdorf umziehen. Diese Entscheidung wurde von einem Tag auf den anderen getroffen und weder die Ehrenamtlichen noch die Flüchtlinge, die umziehen sollten, wurden darüber informiert. Auf dem Bescheid standen lediglich Nummern, nicht die Namen der Asylsuchenden, die verlegt werden sollten. Daraufhin machten die Ehrenamtlichen eine Fotoserie, bei der die Flüchtlinge Schilder trugen: „Wir sind Menschen und haben einen Namen und keine Nummer. Wir wollen über unser Schicksal rechtzeitig informiert werden.“ Die freiwilligen Helfer haben sich also gegen den Umzug gesperrt und ihn sogar vorerst verhindert. Für mich sind das alles Formen von politischem Aktivismus, wenn vielleicht auch nicht der klassische Protest auf der Straße, sondern eher verdeckt, auf eine subtilere Art und Weise.
Bevor Flüchtlingssolidarität in den letzten Jahren so populär wurde, waren hier besonders Menschen aus dem linkspolitischen Spektrum aktiv. Diese senden klare Botschaften im Zusammenhang mit ihrer Unterstützung von Geflüchteten. Sie stehen dem Nationalstaat oft kritisch gegenüber, thematisieren damit einhergehende Grenzziehungen und Ungerechtigkeiten und üben Kritik an weiteren kapitalistischen Zusammenhängen. Da von Ehrenamtlichen zumindest am Anfang ihres Engagements oft keine solche Kritik kam, hieß es unter vielen Aktivisten: „Das ist nicht die richtige Hilfe, denn sie sorgt nicht für gleiche Rechte. Stattdessen dient sie dem Staat und verfestigt Ausschlüsse und Ungerechtigkeiten.“ Viele haben daher eher ablehnend reagiert und gesagt, die Ehrenamtlichen würden eine Einteilung in „richtige“ und „falsche“ Flüchtlinge fördern …
Was sind richtige und falsche Flüchtlinge?
Fleischmann: Ein freiwilliger Helfer hat mir in einem Interview gesagt, er möchte nur dort helfen, wo es effizient ist. Damit meinte er nur jene Asylsuchenden, die eine gute Bleibeperspektive haben, beispielsweise Syrer. Die schrecklichen Bilder des Kriegs in Syrien waren in den Medien sehr präsent, weshalb Menschen aus diesem Land oft als die richtigen Flüchtlinge betrachtet werden. Menschen afrikanischer Herkunft hingegen wird oft unterstellt, dass sie nur aus wirtschaftlichen Gründen hierher kommen und dem Staat so viel Geld wie möglich aus der Tasche ziehen wollen.
Wie verbreitet ist diese Unterscheidung?
Fleischmann: Ziemlich. Eine Ansprechpartnerin für Bürgerengagement bei der Stadt Freiburg erzählte mir, dass ihr Telefon nicht mehr stillgestanden habe, als das Bild der Krise in den Medien so präsent war. Viele Anrufer meldeten sich bei ihr mit Hilfsangeboten. Dabei hatten sie klare Vorstellungen, wer richtig hilfsbedürftig sei, wer ihre Hilfe verdiene und wer nicht. Oft wollten sie nur Syrern helfen, manchmal sogar nur Frauen oder Familien. Alleinstehenden Männern oder Menschen aus anderen Ländern, zum Beispiel in Afrika, wollte kaum jemand helfen. Dies ist natürlich problematisch und mit rassistischen Vorurteilen behaftet, dass beispielsweise Menschen aus Afrika kriminell seien oder uns nur ausbeuten wollen. Und Migrationsentscheidungen werden zu stark vereinfacht, denn es gibt auch in afrikanischen Ländern Bürgerkrieg oder problematische politische Verhältnisse, wie in Mali oder Gambia.
Außerdem werfen die ‚klassischen‘ politischen Aktivisten den Ehrenamtlichen oft vor, dass sie mit ihrer Hilfe paternalistische Verhältnisse reproduzieren würden. Damit ist gemeint, dass sie Flüchtlinge nicht als eigenständige Personen wahrnehmen, die zu eigenen Wünschen und Entscheidungen fähig sind, sondern sie wie Kinder behandeln.
Trifft der Vorwurf zu?
Fleischmann: Sicher gingen manche Helfer mit gewissen Erwartungen an die Flüchtlinge heran – diese müssten dankbar sein und dürften keine eigenen Ansprüche stellen, sondern das annehmen, was man ihnen gebe. Das mag am Anfang noch funktioniert haben, als viele Geflüchtete neu ankamen, aber inzwischen haben doch viele Ehrenamtliche festgestellt: Das sind eigenständige Menschen, die nicht immer nur an unserem Tropf hängen wollen, sondern ihr Leben selbst bestimmen und meistern möchten.
Bei Gruppen, die einen linkspolitischen und aktivistischen Anspruch an ihre Handlungen haben, wird schon seit Jahren intensiv überlegt, wie man solch paternalistische Verhältnisse aufbrechen und Flüchtlingen auch selbst eine Stimme geben kann. Sie sollen für sich selbst sprechen können – nicht immer nur andere für sie. Bei Demonstrationen beispielweise wird versucht, das Mikrofon an Geflüchtete zu übergeben, damit sie ihre Belange aus ihrer eigenen Perspektive vorbringen können.
Davon könnten die Ehrenamtlichen also lernen?
Zwischen politischen Aktivisten und Ehrenamtlichen bestehen viele Überschneidungen, die man als Potenzial verstehen kann, um die Gesellschaft für die Belange der Flüchtlinge zu sensibilisieren.
Fleischmann: Ja. Andererseits halte ich es auch für problematisch, dass die politischen Aktivisten sich von den Ehrenamtlichen zu stark abgrenzen. Denn zwischen beiden Gruppen bestehen auch viele Überschneidungen, die man als Potenzial verstehen kann, um die Gesellschaft für die Belange der Flüchtlinge zu sensibilisieren. An einigen Orten haben sich Aktivisten und Helfer auch zusammengetan.
Wo zum Beispiel?
Fleischmann: Im Spätsommer 2015 kamen tausende Flüchtlinge auf ihrer Fluchtroute durch die Stadt Lübeck. Von dort wollten sie mit der Fähre weiter nach Schweden, wo sie Freunde oder Verwandte hatten und Asyl beantragen wollten. Linksautonome Aktivisten gründeten in Lübeck daraufhin ein „Solizentrum“ um solche Transitflüchtlinge zu unterstützen, indem sie Schlafplätze, Informationen, ein warmes Essen, Kleidung oder medizinischen Rat anboten. Auch das Ticket für die Fähre wurde oft zu einem Teil durch Spenden finanziert. Dieses Projekt fand riesigen Anklang unter den Lübeckern. Schnell setzten sich nicht nur linksautonome Aktivisten für die Transitflüchtlinge ein, sondern ganz viele Freiwillige aus der Bevölkerung, darunter auch ältere Menschen, die sonst wahrscheinlich nicht in ein linksautonomes Zentrum gegangen wären. Insgesamt konnten so rund 15.000 Flüchtlinge auf ihrer Durchreise unterstützt werden, was auf beeindruckende Weise zeigt, wie fruchtbar so eine Kooperation zwischen Aktivisten und anderen Helfern sein kann.
Welches Potenzial haben die Ehrenamtlichen selbst, auf die große Politik einzuwirken?
Fleischmann: Ich bin der Meinung, sie besitzen ein nicht zu unterschätzendes Potential, an lokalen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen mitzuwirken. Wenn sie zum Beispiel durch Protestbriefe oder persönliche Treffen gegen manche Entscheidungen protestieren, beeinflussen sie womöglich die Zuständigen im Landratsamt, die das wiederum an höhere Stellen tragen, sodass sich Änderungen auch weiter oben durchsetzen könnten.
Dass die Identität eines Ehrenamtlichen eigentlich eine ganz machtvolle Position ist, zeigte sich auch in Bayern: Ende 2015 waren hunderte Ehrenamtliche aus ganz Bayern in den Landtag eingeladen, wo die Landesregierung sie für ihr Engagement mit einer Auszeichnung und einem Festessen ehren wollte. Kurz zuvor hatte die CSU in den Medien ihre Forderung nach einer Obergrenze publik gemacht, ein Verhalten, das viele Engagierte als zynisch auffassten: Auf der einen Seite schürt man Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und auf der anderen Seite will man aber Ehrenamtliche ehren und für die eigenen Zwecke vereinnahmen. Daher haben sich viele von ihnen öffentlich gegen die Veranstaltung im Landtag ausgesprochen und sie boykottiert. In Landsberg rief beispielsweise eine Gruppe von Ehrenamtlichen zu einem „24-Stunden-Warnstreik der ehrenamtlichen Helfer“ auf. Prägnant formuliert waren auch die Poster mit „Wir sind lieb, aber nicht doof“, „Ehrenamtliche sind keine Marionetten, wir wollen ein Mitspracherecht“.
Wie hat sich das ehrenamtliche Engagement seit 2015 entwickelt?
Fleischmann: Während im Sommer 2015 eher kurzfristige Hilfsangebote im Vordergrund standen, zum Beispiel Sachspenden, zielt das Engagement nun immer mehr auf Integration ab. Einer meiner Interviewpartner, ein Ehrenamtlicher, beschrieb das so: „Die Flüchtlinge sind jetzt angekommen und haben erst einmal das Nötigste. Jetzt konzentrieren wir uns auf ihre längerfristige Integration in den Arbeitsmarkt.“ Entsprechend bieten sie Bewerbungstrainings oder Deutsch-Sprachkurse an.
Sicher haben die Engagierten auch mit Enttäuschungen zu kämpfen, wenn Flüchtlinge abgeschoben werden oder wenn die Stadt oder das Landratsamt ihnen Entscheidungen auftischt, gegen die sie nicht ankommen. Das mag dazu führen, dass der eine oder andere frustriert aussteigt oder eben doch politisch tätig wird, weil er merkt: „Hier läuft etwas grundsätzlich falsch in der Politik, es gibt strukturelle Ungerechtigkeit oder Ungleichheiten. Nicht der Mitarbeiter im Landratsamt stellt sich quer, sondern eigentlich ist die Gesetzgebung problematisch.“
Wie könnte die Politik künftig die ehrenamtlichen Helfer unterstützen, sodass diese nachhaltig helfen können und wollen?
Fleischmann: Die Landesregierung in Baden-Württemberg hat sehr viele Programme auf den Weg gebracht, um Bürgerbeteiligung zu fördern. Unter dem Motto „Gemeinsam in Vielfalt“ werden sogenannte „lokale Bündnisse“, also Vernetzungen vor Ort, mit einem großen Fördertopf unterstützt. Flüchtlingsinitiativen können sich also mit Sozialarbeitern der freien Wohlfahrtspflege oder auch mit dem Flüchtlingsbeauftragten der Stadt an einen Tisch setzen und austauschen. Auch lokale Bürgerdialoge werden gefördert, bei welchen sich die Bürger informieren und auch ihre Ängste und Sorgen loswerden können, etwa wenn ein Flüchtlingswohnheim gebaut werden soll. So will man verhindern, dass die Menschen Ressentiments aufbauen und sich in rechten Gruppierungen engagieren.
Jedoch könnte die starke Förderung teilweise auch den Nebeneffekt haben, dass die Ehrenamtlichen nicht mehr unabhängig arbeiten und sich frei entfalten können. Meiner Meinung nach dürfen die Ehrenamtlichen von staatlicher Seite nicht zu sehr beeinflusst und vereinnahmt werden. Es ist ganz wichtig, dass dieses Engagement ein Stück weit unabhängig von staatlichen Strukturen bleibt. Bürgerengagement muss manchmal ungemütlich sein, denn davon lebt unsere Demokratie.
Die Ethnologin Larissa Fleischmann promoviert im Exzellenzcluster zum Thema „Supporting refugees between humanitarian help and political activism in Germany“. Sie ist Mitglied im Doktorandenkolleg „Europa in der globalisierten Welt“.
Themen Thesen Texte
Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 6/2017.
Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht) oder als E-Book zum Download.
Inhalt
Die Großzügigkeit der kanadischen und deutschen Asylsysteme: eine Mär?
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