Der Mensch im algorithmischen Zeitalter
Die jüngsten Entwicklungen der Finanzmärkte
von Robert Seyfert
Ein Algorithmus ist allgemein nichts weiter als ein formales und streng kontrolliertes Ablaufverfahren. Das ist zunächst nichts Neues: Ein Kochrezept ist genau genommen auch ein Algorithmus: zuerst Zutat A, dann Zutat B, anschließend n Minuten kochen lassen, schließlich Zutat C … Algorithmen zeichnen sich durch einen hohen Grad an Präzision und Wiederholbarkeit, sowie eine spezifische Gerichtetheit und Zeitlichkeit aus. Man kann ein Kochrezept nicht von hinten beginnen und sich mit der Ausführung der einzelnen Schritte nicht beliebig viel Zeit lassen. Prozesse der Automatisierung radikalisieren diese Präzision, Zeitlichkeit und Wiederholbarkeit. Der in Folge beschriebene algorithmische Börsenhandel steht nicht als ein exotischer Einzelfall, sondern ist vielmehr Ausdruck einer weiter gefassten gesellschaftlichen Entwicklung.
Als prominentester Fall der Automatisierung der Finanzmärkte kann ohne Frage der sogenannte Hochfrequenzhandel gelten, eine Sonderform des algorithmischen Börsenhandels. Entsprechende Unternehmen automatisieren die Beschaffung (Allokation) von Finanzmarktinformationen, die Entscheidungsfindung und die Handelsausführung, lassen dies also von Algorithmen durchführen. Der Begriff des Hochfrequenzhandels mag ein wenig irreführen. Denn das entscheidende Merkmal dieser Form des algorithmischen Tauschhandels ist nicht notwendigerweise, dass möglichst viele Transaktionen in kurzer Zeit getätigt werden, sondern vielmehr eine möglichst kurze Latenzzeit, das heißt die möglichst schnelle Informationsbeschaffung, Entscheidungsfindung und Handlungsausführung.
Solch automatisierte, durch Algorithmen angetriebene Prozesse beschränken sich nicht allein auf diese infrastrukturell sehr anspruchsvolle Handelspraxis, sondern durchdringen alle Bereiche des Finanzmarktes, etwa wenn Kreditwürdigkeiten (credit scores) einzuschätzen sind. Seit Anfang der 2000er-Jahre beobachten wir, dass Marktmechanismen selbst automatisiert werden – beispielsweise die Preisbildung an Algorithmen delegiert wird. So setzen die heute zumeist vollständig elektronischen Börsenplätze Algorithmen ein, um Angebot und Nachfrage zu vermitteln (order matching) und Aufträge abzuwickeln.
Die Karriere der Algorithmen
Investoren wie die bereits erwähnten Hochfrequenzhändler bauten anfangs vor allem auf die systematische und automatische Transaktionsausführung mithilfe sogenannter execution algorithms. Solche Algorithmen setzten sie, vereinfacht gesagt, ein, um Finanzmarkttransaktionen so auszuführen, dass deren Auswirkungen auf den Marktpreis möglichst gering sind. Da bei hoher Nachfrage nach einem Wertpapier dessen Marktpreis steigt, kommt beispielsweise ein VWAP-Algorithmus zum Einsatz, der den Auftrag in kleine Tranchen aufteilt und diese Sub-Aufträge unter Berücksichtigung der jeweils aktuellen Preisentwicklung über längere Zeit durchführt. So kann der Algorithmus nach dem Kauf jeder Tranche warten, bis sich der Preis erholt hat, bevor der nächste Teil erworben wird.
Hier dient der Einsatz von Algorithmen zum einen der Entlastung der menschlichen Akteure, weil diese die vielen kleinen Tranchen nun nicht mehr mühsam mit der Hand eingeben müssen. Zum anderen kann die automatische Ausführung schneller auf Preisänderungen reagieren und der Auftrag dadurch schneller abgearbeitet werden.
Manche Börsenhändler experimentieren heute mit Machine-Learning-Algorithmen. Diese analysieren große Mengen an Daten (Big Data), und erkennen dabei Muster und Korrelationen in der Marktentwicklung, um anschließend selbstständige Handelsstrategien zu entwickeln.
Mittlerweile werden auch die Informationsbeschaffung und Entscheidungsfindung mithilfe von Algorithmen betrieben. Die algorithmischen Handelssysteme greifen auf die aktuellen Marktpreise zu, treffen Handlungsentscheidungen und führen diese selbstständig durch. Solchen Algorithmen gibt man vorab Handelsstrategien vor und programmiert erkannte Muster der Preisentwicklung ein, an denen sich der Algorithmus orientieren soll. Beispielsweise kann die Preisentwicklung eines bestimmten Wertpapiers regelmäßig der Preisentwicklung eines anderen Papiers zeitlich vorhergehen. Einmal als Muster erkannt, lässt sich ein algorithmisches Handelssystem so entwickeln, dass diese Korrelation automatisiert ausgeschöpft wird.
Darüber hinaus experimentieren manche Börsenhändler heute mit sogenannten Machine-Learning-Algorithmen. Dort werden diese Korrelationen nicht mehr von den menschlichen Akteuren vorgegeben. Vielmehr besteht nun die Aufgabe des Algorithmus darin, große Mengen an Daten zu analysieren (Big Data), und dabei Muster und Korrelationen in der Marktentwicklung zu erkennen, um anschließend selbstständige Handelsstrategien zu entwickeln.
Die neue Rolle des Menschen
Algorithmen scheinen Prozesse, die zuvor menschliche Spezialisten ausführten, übernommen zu haben. Im aktuellen Diskurs über die Automatisierung der Finanzmärkte werden Algorithmen durch eine gewisse Autonomie und eine Unabhängigkeit von menschlichen Akteuren charakterisiert. Geläufige Argumente sind: „Algorithmen agieren autonom, hinter unserem Rücken. Sie treffen eigenständige Entscheidungen und lernen darüber hinaus maschinell.“ Manche behaupten gar, Algorithmen hätten eine künstliche Intelligenz.
Dieses Verständnis einer algorithmischen Konstruktion der Wirklichkeit erklärt, warum Algorithmen als eine Bedrohung wahrgenommen werden – entweder, weil sie ohne unser Wissen Entscheidungen treffen (zum Beispiel darüber, welche Nachrichten, Produkte und Informationen für uns relevant sind), oder, weil sie uns irgendwann die Arbeit weg- bzw. abnehmen (Industrie 4.0), so der Diskurs. Doch gehen Prozesse der Automatisierung notwendig damit einher, dass Menschen ausgeschlossen werden?
Die Schwäche dieses Narrativs besteht darin, dass es allein darauf fokussiert, welche menschlichen Tätigkeiten von Algorithmen übernommen werden. Es unterschlägt aber, welche neuen Tätigkeiten für den Menschen dabei entstehen, auf welche neue Weise er in automatisierten Prozessen wie dem algorithmischen Börsenhandel in Anspruch genommen wird.
Historisch gesehen war diese Technologie des algorithmischen Hochfrequenzhandels bis etwa 2009 relativ umstandslos profitabel. Damals war sie auch am weitesten automatisiert, wenn man darunter die Abwesenheit von Menschen versteht. Das hatte mit der Neuheit der Technologie zu tun, sodass die Pioniere hier allein aufgrund der Geschwindigkeitsvorteile (beziehungsweise der geringen Latenzzeit) relativ einfach Gewinne erzielen konnten. Mit der zunehmenden Verbreitung dieser Technik sank die Profitrate ab 2009 zunehmend. Seitdem lässt sich eine Entwicklung in zwei alternative Richtungen nachzeichnen.
Einige frühe Marktakteure haben eine dominante Marktposition eingenommen, die ihnen die notwendigen Ressourcen sichert, um die Latenzzeit immer weiter zu verkürzen und die Beschleunigung stetig zu erhöhen. Das ist ein zunehmend kostspieliges Verfahren, weil es immer anspruchsvollere Technologien voraussetzt, die immer geringere Vorteile zeitigen. Diejenigen, die sich das nicht leisten können, setzen stattdessen auf komplexere Strategien. Zwar bauen auch sie auf Hochfrequenzhandelssysteme, sind aber aus dem Rennen gen Lichtgeschwindigkeit ausgestiegen.
Gerade beim Einsatz intelligenterer Strategien lässt sich beobachten, dass die algorithmischen Handelssysteme sehr von der Präsenz menschlicher Akteure abhängen.
Gerade beim Einsatz intelligenterer Strategien lässt sich nun beobachten, dass die algorithmischen Handelssysteme sehr von der Präsenz menschlicher Akteure abhängen. Hatten sie in einfachen Systemen lediglich die Systeme zu überwachen und beim Auftreten unerwarteter Ereignisse oder technischen Versagens das Handelssystem abzuschalten, bedarf es in komplexeren Systemen der beständigen Kontrolle, Intervention und Justierung.
Die Menschen, die die Handelssysteme an ihren Bildschirmen verfolgen, müssen deren Funktion und Logik genau verstehen. Sie müssen wissen, für welche Marktsituationen sie gefertigt sind und für welche nicht. Ändert sich die Marktsituation in einer Weise, die in den Algorithmen nicht vorgesehen ist, müssen sie eingreifen. Ihre Reaktion ist gefragt, wenn Ereignisse nicht vorhersehbar waren und insofern auch im Ablaufplan des Algorithmus nicht vorgesehen sind. Dabei kann es sich um ganz banale Dinge handeln.
Ein Beispiel: Ein algorithmisches Handelssystem operiert mit der Annahme, dass eine bestimmte Preisentwicklung darauf zurückgeht, dass die Arbeitsmarktzahlen an einem ganz bestimmten Tag veröffentlicht werden. Kommt es bei der Veröffentlichung dieser Zahlen jedoch wie am 6. März 2015 in den USA zu einer Verzögerung von 62 Sekunden, muss jemand diesen Parameter rechtzeitig anpassen. Dies leistet in der Regel ein menschlicher Akteur. In der Tat ließe sich auch dieses Ereignis algorithmisch einspeisen, aber eben erst dann, wenn man mit seinem Auftreten rechnet.
Solche komplexen Systeme setzen insofern eine anspruchsvolle unternehmerische Organisation voraus, die gelegentlich eine geradezu militärische Organisation des Personals fordert. Man braucht qualifiziertes Personal, das das Verhalten der Handelsalgorithmen versteht, diese und die Umwelt aufmerksam verfolgt (zum Beispiel über Newsfeeds wie Bloomberg News) und, wenn nötig, Anpassungen vornimmt. Da die meisten Firmen, die ich besucht habe, in nordamerikanischen und europäischen Finanzmärkten handeln, sind die entsprechenden Abteilungen von 7 Uhr bis 20 Uhr aktiv. Verschiedene Gruppen von Händlern arbeiten in drei aufeinanderfolgenden Schichten. Das Personal kann den Arbeitsplatz nicht einfach verlassen, sodass selbst Mittags- oder Toilettenpausen einen Ersatz nötig machen.
Anders als allgemein vermutet, zeigt die empirische Forschung zu automatisierten Systemen im Hochfrequenzhandel also, dass menschliches Personal hochgradig in Anspruch genommen wird. Paradoxerweise sind die komplexesten automatischen Börsenpraktiken auch diejenigen, die am wenigsten automatisch ablaufen (sofern man Automatisierung als eine menschenfreie Aktivität versteht). Der Schluss liegt nahe, dass diese Strategien so komplex sind, dass sie gegenüber ihrer Umwelt weniger robust und damit auch anfälliger für unvorhergesehene Ereignisse sind. Die menschlichen Akteure dienen hier der Vermittlung von System und Umwelt.
Eine ähnliche Rolle lässt sich auch für Automatisierungsprozesse in anderen gesellschaftlichen Bereichen vermuten. Dabei kann die Vermittlung entweder darin bestehen, die Komplexität der Umwelt zu reduzieren oder die menschlichen Akteure zu disziplinieren. Denken wir an autonome Fahrzeuge: Die gesellschaftlich relevanten Konsequenzen finden sich nicht so sehr in der künstlichen Intelligenz der Fahrzeuge: Vielmehr setzen sie zum einen eine veränderte Umwelt mit reduzierter Komplexität – zum Beispiel Autobahnen, die man nicht betreten darf und die Fahren nur in eine Richtung erlauben – voraus. Zum anderen verlangen sie eine Disziplinierung der Fahrzeugführer, die lernen müssen, dass autonomes Fahren unsere Aufmerksamkeit nicht weniger, sondern anders in Anspruch nimmt.
Der Soziologe Robert Seyfert ist Akademischer Rat an der Universität Duisburg-Essen. Von 2012 bis 2015 forschte er am Exzellenzcluster zum Thema „Risk, uncertainty and non-/knowledge in the financial market: Computerized trades from the perspective of sociology of finance“. Mit Jonathan Roberge gab er Algorithmuskulturen. Über die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit (Bielefeld 2017) heraus.
Themen Thesen Texte
Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 6/2017.
Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht) oder als E-Book zum Download.
Inhalt
Die Großzügigkeit der kanadischen und deutschen Asylsysteme: eine Mär?
Lorenz Neuberger
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