Großer Sprung oder kleine Schritte?
von Niels P. Petersson
Der erste Punkt der „Millenniums-Entwicklungsziele“ der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 lautet: Bis 2015 soll die Zahl der Hungernden sowie derjenigen, die mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen müssen, halbiert werden. Warum ausgerechnet 2015? Und warum nicht die völlige Beseitigung von Hunger und Armut? Mag sein, dass diese Vorgaben schlicht der Logik politischer Propaganda folgen. Doch hat Entwicklungspolitik nicht allein die Ausschüttung von Geldern an bedürftige Menschen und Staaten zum Ziel, sondern möchte Armut dauerhaft aus der Welt schaffen. Weil damit tiefgreifende strukturelle Veränderungen verbunden sind, spielt die Frage ihres zeitlichen Horizonts eine alles andere als triviale Rolle. Ein Blick in die Geschichte kann dies illustrieren.
Entwicklungspolitik möchte Armut dauerhaft aus der Welt schaffen.
Das 19. und das 20. Jahrhundert bildeten die Zeit der großen Projekte der Weltverbesserung: Ganze Gesellschaften sollten im Sinne des „Fortschritts“ umgestaltet werden. Zugleich entwickelte sich der Gedanke, die Europäer hätten außerhalb ihres Kontinents eine zivilisatorische Mission zu erfüllen. Schon das napoleonische Frankreich kombinierte diese Art gesellschaftlicher Transformation mit einer inner- wie außereuropäischen Zivilisierungsmission.
Der Osten marschiert im Sauseschritt
Der Glaube der Europäer, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren, eignete sich hervorragend zur Rechtfertigung von Ansprüchen außerhalb Europas. Spätestens um 1900 wurde aber deutlich, dass der Westen kein Monopol auf diesen Fortschritt hatte. Japan war zu einer ernst zu nehmenden Militär- und Industriemacht geworden, und überall in Asien gab es Reformbewegungen, die sich den Aufbau starker, unabhängiger, industrialisierter Verfassungsstaaten zum Ziel setzten. „Im Osten geht die Zeit jetzt stärker im Sauseschritt als je zuvor“, stellte der Bankier und Politiker von Dernburg 1911 nach einer Asienreise fest. Man sprach vom „Erwachen“ Chinas, von einem „unvernünftigen, unmäßigen Verlangen der Chinesen nach sofortigen Reformen“ und von der „gelben Gefahr“.
Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Ein französischer Diplomat empfahl 1907, die „Ausbreitung der großen Prinzipien der westlichen Zivilisation“ zu bremsen – besser sei es, wenn die Chinesen ohne großen Fortschritt dahinvegetierten. Andere sahen geschäftliche Chancen in der Modernisierung Asiens, allerdings nur, wenn antiwestliche Kräfte ausgeschaltet würden. Eine Lösung des Dilemmas zwischen Herrschaft und Fortschritt versprach ein deutscher Diplomat. Bei allem Interesse an Stabilität, so glaubte er, müsse man mit den „oft turbulenten und unreifen, aber patriotischen und gesunden Volkskräften“ zusammengehen, denen an der Modernisierung des Landes gelegen war. Aber diese Entwicklung sollte gerade nicht der Emanzipation von europäischer Hegemonie dienen – „ohne fremde Hilfe und Aufsicht“ erschien sie weder aussichtsreich noch wünschenswert.
Noch deutlicher wurde das dort, wo die Europäer Herrschaft ausübten. Die Vorstellung einer staatlich vorangetriebenen sozialen Transformation spielte hier nur vorübergehend, nämlich bis zum großen indischen Aufstand von 1857, eine wichtige Rolle. Danach fürchtete man die Gefahren raschen sozialen Wandels. Lord Cromer, als britischer Generalkonsul in Kairo von 1883 bis 1907 faktisch der Alleinherrscher über Ägypten, traute der dortigen Bevölkerung weder die Selbstverwaltung noch eine soziostrukturelle Modernisierung zu. Seine wesentliche Aufgabe erblickte er deshalb darin, politische Prozesse auf das Schneckentempo des sozialen Strukturwandels herunterzubremsen – etwa durch eine Bildungspolitik, die die Entstehung einer Schicht unzufriedener unterbeschäftigter Intellektueller verhinderte, oder durch die unmissverständliche Zurschaustellung militärischer Macht.
In der Zwischenkriegszeit intensivierte sich das Nachdenken über „Colonial Development“. Einmal, damit die Kolonien einen Beitrag zur wirtschaftlichen Stärke der Mutterländer leisten konnten, aber auch, um koloniale Herrschaft überhaupt noch legitimieren zu können. Die Entwicklungsrhetorik wurde rasch von den „Kolonisierten“ aufgegriffen: Sie forderten höhere Löhne, soziale Leistungen und politische Freiheiten. Dass es schlicht zu teuer gewesen wäre, diese Versprechungen wirklich einzulösen, war nach dem Zweiten Weltkrieg dann ein wesentlicher Grund für die relativ rasche Auflösung der Kolonialreiche. Das Argument, die kolonialen Völker müssten erst allmählich auf die Selbstverwaltung vorbereitet werden, spielte auf einmal keine Rolle mehr.
Aufziehmäuse auf dem Parcours der Weltgeschichte
So wurden aus Kolonien „Entwicklungsländer“ – die im Kalten Krieg von zwei Seiten umworben wurden. Beiden Supermächten war daran gelegen, in der „Dritten Welt“ die Überlegenheit ihres Gesellschaftsmodells zu demonstrieren. Der Westen orientierte sich dabei am Leitbild der Modernisierungstheorie. Danach befanden sich alle Gesellschaften der Welt auf unterschiedlichen Etappen desselben Entwicklungspfades, der von einer statischen „traditionellen“ hin zur „modernen“ industrialisierten Gesellschaftsordnung führte. Modernisierungstheoretiker wie Walt Rostow trauten sich zu, Anweisungen zu formulieren, wie dieser Weg beschleunigt und ohne Unfälle absolviert werden könne.
Viele Sozialwissenschaftler machten sich über Rostows Stadientheorie lustig, nach der Gesellschaften wie Aufziehmäuse durch den Parcours der Weltgeschichte rannten. Rostow selbst betonte hingegen intern, es sei wichtiger, dem Wähler zuhause und den politischen Führern in der Dritten Welt eine mitreißende Erzählung zu liefern als eine wissenschaftlich korrekte Theorie.
Der „große Sprung“ in die Katastrophe
Das Überspringen von Stadien lässt diese Theorie nicht zu. Genau dies aber haben politische Bewegungen in der Dritten Welt, die sich mit dem ihnen in der Gegenwart zugewiesenen Platz am unteren Ende der Entwicklungsskala nicht abfinden wollten, immer wieder versucht. Den radikalsten und zugleich katastrophalsten Versuch stellt sicherlich Chinas „Großer Sprung nach vorn“ dar. Ende der 1950er Jahre fiel es der Führung schwer, die bis dahin hohen industriellen Wachstumsraten zu halten und zugleich die Bevölkerung zu ernähren. Chinesische Wirtschaftsexperten propagierten eine Verlangsamung des Wachstums zugunsten der Produktion von Konsumgütern und Nahrungsmitteln. Mao Zedong setzte jedoch 1958 eine andere Strategie durch: Politische Mobilisierung und revolutionärer Enthusiasmus sollten dafür sorgen, dass alle Engpässe in einer einzigen großen Anstrengung überwunden würden. Das Ziel: Der sofortige Ausbruch aus Armut und Unterentwicklung.
Die Mobilisierung der Bevölkerung gelang zunächst; ungeheure Anstrengungen flossen in den Bau neuer Industriewerke, Bewässerungsanlangen und Straßen sowie in die berühmten Hinterhof-Hochöfen. Rasch kam es aber zu neuen Engpässen: die bei Bauvorhaben eingesetzten Bauern fehlten in der Landwirtschaft; katastrophale Ernteeinbrüche wurden nicht bemerkt, weil es inopportun erschien, etwas anderes als die Übererfüllung von Produktionsplänen nach Peking zu melden. Das Ergebnis war die vielleicht schlimmste Hungersnot des 20. Jahrhunderts mit ungefähr 20 Millionen Toten. Das Beispiel zeigt besonders deutlich die Schwierigkeiten, strukturellen Wandel zu beschleunigen – und dennoch versuchte Mao bald darauf in der „Kulturrevolution“, nun die chinesische Kultur und Gesellschaft mit einem Schlag zu verändern.
Das Ende des Entwicklungsdenkens?
Im Westen zersplitterte Entwicklungspolitik als kohärentes Projekt schon in den 1960er Jahren. Kritiker von rechts – bereits damals prominent: Samuel Huntington – merkten an, dass Strukturwandel keineswegs zu Demokratie und Stabilität führte, sondern zu politischem Aufruhr. Entwicklung sei daher nur unter autoritärer Herrschaft Erfolg versprechend. In der Praxis ersetzten konkretere Teilziele – Fortschritte bei der Bekämpfung von Armut, Krankheit, Unterernährung, Analphabetismus – das Ziel eines umfassenden Strukturwandels; sie waren schneller erreichbar und versprachen einen rascheren politischen Ertrag. Die Dritte Welt verlor ihre Einheit; es gab erfolgreiche Industrialisierung, Erdölboomstaaten, aber auch Stagnation und Staatszerfall. „Entwicklung“ und „Modernisierung“ aber prägen weiterhin die Erwartungen.
Entwicklungspolitik soll einen raschen, zugleich strukturell tiefgreifenden Wandel erreichen, ohne dabei sozialen Zusammenhalt zu zerstören – ein hoch ambitioniertes Programm, bei dem immer wieder die Grenzen der politischen Gestaltbarkeit sozialer Prozesse deutlich geworden sind. Daher wird die Frage, ob große Projekte gesamtgesellschaftlicher Transformation überhaupt noch zeitgemäß sind, heute besonders intensiv dort diskutiert, wo es um die Bekämpfung nicht hinnehmbarer Armut und Unterentwicklung in der Dritten Welt geht.