Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Die Kunst des Zusammenlebens

Interview mit Tilmann Heil

Im Frühsommer 2017 veröffentlichte eine Bundesinitiative 15 Thesen zur kulturellen Integration, kurz zuvor hatte Innenminister de Maizière mit seinen Grundsätzen deutscher Leitkultur für Aufsehen gesorgt. Glauben Sie, dass die moderne, von Differenz geprägte Gesellschaft solche Leitthesen für ihren Zusammenhalt braucht?

Es kommt sehr darauf an, wie solche Thesen entstehen. Von oben diktierte Thesen scheinen mir in diesem Zusammenhang wenig hilfreich zu sein, insbesondere wenn sie so formuliert sind, wie de Maizière es tat. Die wiederaufgekommene Leitkulturdebatte ist alles andere als produktiv, weil sie den falschen Ton trifft und ein mehrfach kritisiertes Vokabular benutzt. Die Thesen der Bundesinitiative sind dagegen wesentlich differenzierter, wenngleich auch der kulturelle Integrationsbegriff problematisch ist. Für mich ist es wichtig zu fragen: Wer fordert hier eigentlich was und aus welcher Machtposition heraus?

Es ist natürlich nachvollziehbar, dass staatliche und andere politische Akteure Leitlinien des Zusammenlebens definieren wollen. Aber die Frage ist, welches Vokabular und welche Terminologie sie in die öffentliche Debatte eingebracht und wer diese wie aufgreift und mit Inhalten füllt.
In der Zeit, in der ich in Katalonien geforscht habe – vor allem 2007 bis 2013 – wurde dort im Rahmen der Politik eines Zusammenlebens auch versucht, das Katalanische zu definieren – aber nicht als etwas Monolithisches oder als Leitkultur, sondern als etwas, das im Gebiet des heutigen und historischen Katalonien immer heterogen war, immer hybrid, das immer auf Verschiedenheit gründete.

Man proklamierte auch, dass Menschen egal welcher Herkunft Teil der katalanischen Bevölkerung seien und werden könnten. Der konkrete Bezug auf Al-Andalus im Rahmen der damaligen Debatte um convivencia (Zusammenleben) ist natürlich problematisch: In der Geschichte Andalusiens nur ein geglücktes Vorbild für das Zusammenleben verschiedener kultureller und religiöser Gruppen zu sehen, ist eine offensichtlich problematische und einseitige Rezeption.

Trotzdem scheint mir der Ansatz Kataloniens mehr auf die akuten Konfigurationen gegenwärtiger Gesellschaften einzugehen als der Ruf nach kultureller Integration in Deutschland oder gar deutscher Leitkultur. Letztlich haftet dem Integrationsbegriff weiterhin etwas Assimilierendes an, auch wenn das in jüngerer Zeit benutzte Vokabular versucht, an aktuelle Debatten von Diversität und Vielfalt anzuknüpfen. Diese sind wiederum für sich genommen problematisch.

Was wäre das richtige Vokabular?

Generell hat der Integrationsgedanke wesentlich höhere Erwartungen und geht wesentlich tiefer in seinen Ansprüchen als der Gedanke vom alltäglichen Zusammenleben, wie ich ihn mit dem Begriff Conviviality versucht habe zu fassen. Der ist ein beobachtender, analytischer Begriff. Und er ist zu unterscheiden vom Konvivialismus, wie ihn das Konvivialistische Manifest gebraucht, das ja dezidiert normativ argumentiert, weil es eine neue Gesellschaftsordnung entwirft.

Was kann der Begriff Conviviality als Analyseinstrument leisten?

Als Wissenschaftler untersuche ich erst, welche begrifflichen Konstruktionen und Konstellationen im Feld vorhanden sind – die politisch, aufgeladen, wertend und bewertend sein können –, und überlege dann, mit welchem begrifflichen Instrumentarium das am besten analysiert werden kann.

Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen analytischen Begriffen und solchen, die die Akteure gebrauchen. Erstere können dem Feld durchaus entlehnt sein; sinnvoll ist es dann aber, diese als analytische Begriffe klar zu definieren. Diese Definition wird dann um ein Vielfaches anders gelagert sein und Aspekte zusammenbringen, die wichtig erscheinen für ein Verständnis der Komplexität unserer Gesellschaften, die aber im politischen Diskurs so nicht zusammengebracht sind.

In meinem Fall war das relativ leicht, weil Conviviality in dem untersuchten Kontext als politischer Begriff schon vorkam. Und er schien mir als englischer Begriff geeignet zu sein, die mich interessierenden Phänomene zusammenzufassen. Die Beziehung in den unterschiedlichen Sprachen ist ja sehr eng: vom englischen conviviality zum spanischen bzw. katalanischen convivencia und französischen cohabitation und zu Konzepten, die in afrikanischen Sprachen auf Nachbarschaftlichkeit oder auf Zusammenleben im wörtlichen Sinne abheben.

Und im Deutschen?

Zusammenleben wäre vielleicht der zutreffendste Begriff. Er ist aber so allgemein und muss daher sehr stark gefüllt werden, insofern möchte ich eher auf Konvivialität zurückgreifen.

Was leistet Conviviality, was andere Begriffe nicht leisten?

Derzeit beobachte ich, dass Conviviality als Buzzword benutzt wird, und dabei sehr stark an ein englisches Grundverständnis des Begriffs angeknüpft wird, nämlich das konfliktfreie Dahinplätschern des Zusammenseins (being convivial in a pub). Davon versuche ich den analytischen Begriff abzugrenzen.

Conviviality umfasst auch die Möglichkeit des Konflikts, der konfliktiven Aushandlung von konträren Positionen und Verständnissen.

Das ist wichtig, denn er umfasst für mich auch die Möglichkeit des Konflikts, der konfliktiven Aushandlung von konträren Positionen und Verständnissen. Conviviality spricht deutlich an, dass mit Verschiedenheit und Differenz umgegangen werden muss, dass dieser Umgang weder einfach noch konfliktfrei zu lösen ist, noch dass der positive Ausgang immer sicher ist. Man beschreibt damit also auch eine fragile soziale Konstellation.

Anzuerkennen, dass Konflikt Teil des sozialen Miteinanders ist, fordert auf allen Seiten ein anderes Herangehen, ein anderes Bewusstsein. Das kann ein rein normativer Begriff möglicherweise auch postulieren, aber über die konkreten Prozesse und Praktiken ist dann weiterhin wenig bekannt.

Sie sprechen den Konvivialismus an, der durch das Konvivialistische Manifest eben erst auch in Deutschland breiter diskutiert wurde?

Das Konvivialistische Manifest beschreibt en detail welche normative Ordnung die (vor allem französischen) AutorInnen sich vorstellen. Sie schreiben explizit, dass es eine normative Verortung davon ist, wie Gesellschaft funktionieren könnte. Im Manifest klingt der Umgang mit Konflikt auch immer wieder an; aber um Situationen zu verstehen, ist es für mich produktiver, nicht auf normativer Ebene zu argumentieren.

Andernfalls bestünde die Gefahr, dass der Begriff politisch instrumentalisiert wird und sich abnutzt, unbrauchbar wird – ähnlich wie das mit Multikulturalismus passiert ist. Eine etwas anders gelagerte, aber ebenfalls problematische Debatte wird derzeit auch um den Begriff des Kosmopolitanismus geführt.

Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan fragt in ihrem Beitrag über „Konviviale Integration in postmigrantischen Gesellschaften“, ob es nicht doch einer Großerzählung, eines Metanarrativs bedarf.

Die Frage ist, wer ein solches Metanarrativ schreibt. Im spanisch-katalanischen Kontext ist mit Sicherheit Convivienca das politische Metanarrativ – mit dem Rückgriff auf Al-Andalus, mit dieser Imagination der katalanischen Herkunft als multiethnisch und der katalanischen Sprache als einer gemeinsamen neben vielen anderen heute dort gesprochenen.

Der Versuch in Deutschland, die Leitkultur als Metanarrativ zu etablieren, ruft aber die falschen Referenzen auf. Wer aus einer Machtposition spricht, bezieht sich schwerlich auf eine Gleichberechtigung von Ungleichen – Menschen verschiedener Herkunft, verschiedener Fähigkeiten und Geschichten. Sondern er/sie ruft eine Leitinstanz auf, die übergeordnet ist, zu der verschiedene Menschen unterschiedlich leicht Zugang finden können.

Davon sind die 15 Thesen zu kultureller Integration weit entfernt, jedoch bleibt in mehreren Formulierungen ein Machtgefälle bestehen zwischen dem, was als lokal verankert gilt, und dem was neu hinzukommt. Daran ändert auch die Feststellung nur wenig, dass Integration ein Prozess sei, der alle Menschen in Deutschland betrifft.

Mein Anliegen mit dem Begriff Conviviality war, mir alltägliche Prozesse anzuschauen, um dann zu sehen, was funktioniert und wie es funktioniert: fragil friedlich und/oder konfliktträchtig; wie fragil friedliches Zusammenleben durch seine eigene Konfiguration (oder von außen) infrage gestellt wird. Es wäre wohl wünschenswert, ein Leitmotiv zu finden, das der Schwierigkeit Rechnung trägt, mit dieser Fragilität umzugehen.

Innenminister Thomas de Maizière wurde kürzlich u.a. für sein Leitkultur-Dogma „Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“ belächelt. Aber am Grüßen als sozialer Praxis kann man doch viel festmachen?

Ich habe ja relativ ausführlich über diese Frage geschrieben. Grüßen kann auf vielerlei Arten passieren: sich die Hand geben, drei Küsse, oder sich einfach nur gegenseitig wahrnehmen. Das Grüßen in Westafrika beispielsweise kann sehr lange dauern und ausführlich sein, die ganze Familie und Informationen über Gott und die Welt beinhalten.

„Was ist die verbindende Basis des Grüßens, wann sagen die Beteiligten, dass es funktioniert?“. In Beantwortung dieser Frage kommt man auf die Werte zu sprechen, die dem Zusammenleben zugrunde liegen.

Das Interessante ist die Translation dieses Grüßens in Migrationskontexten. Die spannende Frage lautet doch „Was ist die verbindende Basis des Grüßens, wann sagen die Beteiligten, dass es funktioniert?“. In Beantwortung dieser Frage kommt man auf die Werte zu sprechen, die dem Zusammenleben zugrunde liegen. Sind es global geteilte Werte oder sind sie kulturell überprägt? Wann fühlen sich also Menschen respektiert bzw. wann beschreiben sie ihr Zusammenleben als funktionierend – oben eben nicht mehr?

Ist das ein Thema, das Ihr Forschungsinteresse leitet?

Während meiner Zeit in Konstanz habe ich untersucht, welches Verständnis von Ungleichheit entsteht, wenn Menschen in komplexe neue Kontexte migrieren. Die Frage, der ich nun künftig nachgehen will, ist die, wie das Zusammenleben unter sehr ungleichen Verhältnissen funktionieren kann, in denen der zum Zusammenleben nötige Minimalkonsens nur sehr schwer erreicht werden kann. Wie kann Zusammenleben in Situationen gelingen, in denen krasse Gegensätze aufeinander treffen und zwischenmenschliche Interaktion erschwert ist.

Zum Abschluss des Doktorandenkollegs „Europa in der globalisierten Welt“ haben die Philosophin Rosi Braidotti und den Semiotiker Walter Mignolo Vorträge gehalten. Was verbindet deren Arbeiten mit Ihren Forschungen und mit Konstanz?

Conviviality ist als Begriff konzeptionell sehr stark an dem festgemacht, was die Menschen, unter denen ich in Westafrika und in Spanien geforscht habe, unter Zusammenleben verstanden haben. Er greift deren lokale Erfahrungen auf. Dadurch werden Konzepte stark gemacht, die bisher so nicht im europäischen Wissenssystem verortet waren und sind. Es war der Versuch, auch die europäische Integrationssituation anders und neu zu verstehen. Durch diesen anderen Blick findet eine epistemologische Verschiebung statt.

Auch die Wissenschaft ist ein normengeprägter Raum, in dem viel oder wenig rezipierte Konzepte und Personen Dominanzen erfahren. Die Arbeiten von Rosi Braidotti und Walter Mignolo stehen für die Relativierung und Neufundierung der Wissensproduktion, die von Europa ausging. Durch ihre theoretische Arbeit zu Epistemologie haben sie viel dazu beigetragen, die als gegeben akzeptierten Wissensdiskurse zu dekonstruieren, zu hinterfragen, neu zu orientieren und zu ergänzen.

Letztendlich sind diese Vorträge im größeren Kontext des Doktorandenkollegs zu sehen. Estela Schindel und mir ging es mit unseren Einladungen darum, noch einmal die Dichotomie „Europa“ vs. „Globalisierte Welt“ kritisch auf ihre problematische epistemische Wirkmacht zu hinterfragen und diese kritische Reflexion in den sich ggf. neu konstituierenden Exzellenzcluster einzubringen.

Das Interview führte Jan Kröger.

Tilmann Heil

Der Ethnologe Dr. Tilmann Heil war von 2013 bis 2017 Koordinator des Doktorandenkollegs „Europa in der globalisierten Welt“ (zusammen mit Dr. Estela Schindel). Seit Juni 2017 forscht er als Marie Sklodowska-Curie Fellow an der KU Leuven, Belgien.