Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Vertriebenes Kind Europas

Zum Tod des Literaturwissenschaftlers Geoffrey Hartman

Ein Nachruf von Aleida Assmann

Geoffrey Hartman (r.) und Hayden White nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde 2009.
Geoffrey Hartman (r.) und Hayden White nach der Verleihung der Ehrendoktorwürde 2009. Foto: A. Assmann

Am 14. März 2016 ist der bedeutende Literaturwissenschaftler Geoffrey Hartman im Alter von 86 Jahren in New Haven gestorben.

1929 als Kind jüdischer Eltern in Frankfurt geboren, musste Hartman 1939 mit einem Kindertransport nach England fliehen und ist nach Kriegsende in die Vereinigten Staaten immigriert. Seine geistige Heimat war die Yale-Universität, an der er studiert, vier Jahrzehnte lang unterrichtet und die Nachkriegsgeschichte seines Fachs entscheidend mitgeformt hat.

Die weitgespannte Wirkung von Hartmans Werk besteht nicht in griffigen Formeln sondern im Anregungsreichtum einer Form von Lektüre, die mit reicher komparatistischer Bildung, biographischer Sensibilität und poetischer Imagination gesättigt war. Die Titel seiner Bücher wie Easy Pieces (1985) oder Minor Prophecies (1991) machen deutlich, dass er die leisen Töne lautstarken Parolen vorzog. Lesen, die hingebungsvolle Interaktion mit den großen Texten unserer Kultur, wurde für Hartman zu einer Lebensform, die in seine essayistisch geprägten Schriften mündete. Dahinter stand ein hohes Ethos, das in einem weiterem Buchtitel, Saving the Text, gültig zusammengefasst ist.

Geoffrey Hartmans vielseitiges Werk spiegelt und verkörpert auf einmalige Weise Entwicklungen der Literaturwissenschaften über ein halbes Jahrhundert hinweg. Er begann mit einem wichtigen Beitrag zur englischen Romantikforschung über das Werk des Dichters William Wordsworth, widmete sich dann zusammen mit Kollegen wie J. Hillis Miller, Paul de Man und Jacques Derrida in einem zweiten Schritt der Theorie der Dekonstruktion. In einer weiteren Wende hat er sich den jüdischen Lektüreformen des Talmud und Midrash zugewandt und damit zu einer jüdischen Erweiterung des abendländischen Kanons beigetragen (Midrash and Literature, 1986).

Ein ganz neues viertes Thema kam in den 1980er Jahren mit der Gründung des Fortunoff-Archivs für Videozeugnisse von Holocaust-Überlebenden hinzu, in dem sich auch das Zeugnis seiner Frau Renée Hartman befindet, die als 10-jährige Waise mit ihrer Schwester in das KZ Bergen-Belsen deportiert wurde.

Mit der konzeptionellen Arbeit zu Themen wie Erinnerung, Trauma und Zeugnis ist Hartman zum Mitbegründer der neuen Disziplin der „Holocaust Studies“ geworden. Auch zur deutschen Erinnerungskultur hat er beigetragen durch seinen Sammelband Bitburg in a Moral and Political Perspective, in dem er zeitnah auf die Verbrüderung von Reagan und Kohl über SS-Gräbern auf einem deutschen Soldatenfriedhof reagierte (1986).

In seiner intellektuellen Autobiographie A Scholar’s Tale (2007) bezeichnet sich Hartman als „vertriebenes Kind Europas“. Er ist im Herzen Europäer geblieben und fühlte sich der deutsch-jüdischen Tradition von Benjamin, Buber, Cassirer, Panofsky und Auerbach aufs Engste verbunden, die einst in seiner Geburtsstadt Frankfurt M. ein wichtiges Zentrum hatte. Er kam regelmäßig wieder zurück nach Europa und gerade auch nach Deutschland. Bereits in den frühen 1950er Jahren war er als GI nach Heidelberg in die amerikanische Besatzungszone zurückgekehrt, seit den 1970er Jahren hielt er an der Universität Heidelberg regelmäßig Gastvorträge.

Der Universität Konstanz war er seit ihrer Gründung über zwei Generationen durch viele Besuche und Austausch eng verbunden. Im Jahre 2009 erhielt er einen Konstanzer Ehrendoktor und eröffnete den Reigen der (bisher sieben) Wolfgang-Iser-Lectures. Diese Lecture ist unter dem Titel Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust im Verlag Konstanz University Press erschienen. Es ist sein letztes Buch geworden, über das er sich noch sehr gefreut hat. Es dokumentiert eine langjährige fruchtbare Kooperation über die Geschichte, die Generationen und den Atlantik hinweg.

Prof. Dr. Aleida Assmann lehrte bis zu ihrer Emeritierung 2014 als Professorin ür Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Sie war maßgeblich beteiligte Wissenschaftlerin und Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“. 2009 initiierte sie die Wolfgang-Iser-Lecture zusammen mit Marcel Lepper.

Wolfgang-Iser-Lecture 2009

Cultural Memory, the Story Event and Contemporary Passion Narratives

zum Vortragsmitschnitt und Veranstaltungsbericht

Publikation

Cover

Geoffrey Hartman, Aleida Assmann: Die Zukunft der Erinnerung und der Holocaust. Konstanz: Konstanz University Press 2012.

Vier Essays von Geoffrey Hartman mit einer Einleitung von Aleida Assmann. Weitere Informationen