Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

„Aufopferungsvoll und heldenhaft gekämpft“

Die Historikerin Agata Nörenberg spricht über die Bedeutung des Warschauer Aufstandes für die Nachkriegsgeschichte Polens und seine Rolle im politischen Diskurs des Landes bis heute. Ein Interview zum 73. Jahrestag des Aufstandes

Warum ist der Warschauer Aufstand bis heute ein so wichtiges Ereignis in der Geschichte Polens?

als Aufständische verkleidete Ehrenwache während der Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag des Warschauer Aufstandes
Als Aufständische verkleidete Ehrenwache während der Gedenkfeierlichkeiten zum Jahrestag des Warschauer Aufstandes. Foto: Agata Nörenberg

Die Vergangenheit spielte und spielt generell eine große Rolle in Polen. Vieles was heute auf politischer Ebene diskutiert und verhandelt wird, wird mit Geschichte begründet. Geschichte ist immer präsent, auch wenn es um tagesaktuelle Politik geht.

Der Zweite Weltkrieg und die Erinnerung an ihn sind zentral, denn er stellte eine Art Gründungsmythos für das kommunistische Polen dar. Erst durch den Krieg wurde die kommunistische Machtübernahme möglich. In der Lesart der Parteiführung wurde durch den Sieg über die Deutschen die Vergangenheit überwunden – eine neue Zukunft konnte aufgebaut werden. Dabei war gerade die immense Zerstörung der Hauptstadt Warschau durch die deutsche Wehrmacht ein deutliches Symbol.

Man kann in der kommunistischen Propaganda über den Wiederaufbau gut sehen, wie drei Zeitebenen miteinander verwoben wurden: Die Vergangenheit, die die Zerstörung gebracht hatte, die Gegenwart, die den Wiederaufbau brachte und damit die Möglichkeit, durch den sozialistischen Realismus die neue Ideologie in die Architektur einfließen zu lassen, und den Weg ebnete in eine verheißungsvolle Zukunft des neuen Polens, in dem die Klassenunterschiede überwunden würden.

Kotwica in Material der Solidarnosc
Abb. aus: Florian Peters: „Das große Abenteuer ihres Lebens“. Geschichtsbilder und Symbolik der Armia Krajowa und des Warschauer Aufstands im polnischen „Zweiten Umlauf“. Arbeitspapiere und Materialien der Forschungsstelle Osteuropa, Nr. 106, Bremen 2009, S. 63.

Später, seit den 1980er Jahren, sah sich auch die Solidarność klar in der Tradition des Warschauer Aufstandes. Deutlich wurde das, als die Solidarność-Bewegung die Symbole der Heimatarmee (z.B. die Kotwica, ein Ankerzeichen) zusammen mit zeitgenössischen Zeichen auf Grafiken, Plakaten und Briefmarken darstellte und damit ihre oppositionelle Existenz legitimierte. Am 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes 1994 resümierte Lech Wałęsa: „Warschau, Du hast nicht vergeblich gekämpft. Du hast am Ende gesiegt.“ Die Gedenkfeier diente der Solidarność so einerseits zum Aufrechterhalten dieser Aufstandstradition, gleichzeitig aber auch einer Neudefinition der nationalen Identität. Auf diese Weise grenzte Wałęsa das neue Polen von der kommunistischen Vergangenheit ab.

Wie unterschieden sich die Erinnerungsdiskurse an den Warschauer Aufstand 1944 im sozialistischen Polen von denen der polnischen Exilregierung?

Die leitende Forschungsfrage in meinem Projekt war, wie über die Erinnerung an ein historisches Ereignis Herrschaft legitimiert werden sollte. Wie wurde in den Medien an den Warschauer Aufstand erinnert? Und inwieweit instrumentalisierten einerseits die kommunistische Regierung in Warschau und anderseits die Exilregierung in London diesen Diskurs für ihre Zwecke?

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren zwei politische Zentren entstanden, die jeweils den Anspruch erhoben, die polnische Nation als legitime Regierung zu vertreten. Während es Warschau bei dem Gedenken an den Warschauer Aufstand um Herrschaftslegitimation ging, artikulierte London damit seine Machtansprüche. Denn die dortige Exilregierung hatte ja de facto keine Gewalt über das Land und hatte international seine Anerkennung verloren. Aber auf einer ideellen, symbolischen Ebene war diese Exilregierung als Gegenspieler gegenüber Warschau sehr wichtig für die polnische Gesellschaft.

Wie äußerte sich das?

Der Historiker Marcin Zaremba erklärt die Strategien Warschaus so: Die Kommunisten mussten ihre Herrschaft legitimieren, indem sie sich in die polnische nationale Tradition einschrieben und sich in eine Art Kontinuitätslinie mit großen nationalen Helden stellten. Tadeusz Kościuszko, einer der großen Aufständischen im 19. Jahrhundert, wurde so zum großen Bauernführer stilisiert, es gab Mickiewicz-, Chopin-Gedenkfeiern und so weiter.

Vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit nutzte man das Erinnern an den Warschauer Aufstand, weil die kommunistische Herrschaft zwar von Moskau aus gesichert wurde, es ihr aber an Legitimation im Volk fehlte. Sie sicherte ihre Herrschaft zwar mittels Gewalt, Terror und Verfolgung, aber das reichte nicht. Die zweite Stütze war der Versuch, die fehlende Legitimation durch Propaganda zu erreichen: „Wir sind doch Leute wie ihr, wahre Polen – wir wollen nur das Beste für das polnische Volk.“

Das einzige verbliebene Grab im Zentrum Warschaus, das an den Aufstand erinnert.
Das einzige verbliebene Grab im Zentrum Warschaus, das an den Aufstand erinnert. Foto: Halibutt/Wikipedia. Einige Rechte vorbehalten.

Der Aufstand war für die kommunistische Führung deshalb so wichtig, weil die Menschen von sich aus an ihn erinnerten. Unmittelbar nach der „Befreiung“ Polens von den Deutschen hatte die Warschauer Bevölkerung an wichtigen Schauplätzen überall in der Stadt Erinnerungsorte errichtet. Die Kommunisten sprangen also auf diesen Zug auf. Sie konnten den Aufstand nicht richtig tabuisieren, denn er war einfach zu präsent: Die Stadt war fast vollständig zerstört, die Menschen haben als Teilnehmer des Aufstandes eigene traumatische Erinnerungen, sie haben Angehörige verloren.

Die Warschauer Führung stand aber auch wegen eines anderen Aspektes unter Druck, und das war für mich überraschend: Bei Ausbruch des Aufstandes stand die Rote Armee kurz vor Warschau, dann marschierte sie zwar in Praga (einem Warschauer Stadtteil) ein, blieb aber dort östlich der Weichsel und unterstützte die Aufständischen nicht bzw. nur bedingt in ganz wenigen, letztlich erfolglosen Versuchen.

Diesen Umstand machte nun überwiegend die Londoner Exilregierung der kommunistischen Führung zum Vorwurf. Die Partei griff diesen Vorwurf aber auf und diskutierte unter fadenscheinigen Begründungen die sowjetische Zurückhaltung. Interessant fand ich, dass dieses Thema überhaupt aufgegriffen und diskutiert wurde. Zeigt es doch, wie pragmatisch die Warschauer Führung war, wenn es um die Sicherung ihrer Herrschaft ging.

Wie genau argumentierte die kommunistische Partei?

Um diese letztlich strategische Zurückhaltung der Roten Armee zu überspielen, versuchte man den kommunistischen Beitrag zum Warschauer Aufstand künstlich zu erhöhen. In den Pressebeiträgen über den Aufstand wurde beispielsweise die relativ kleine Armia Ludowa, also die kommunistische Volksarmee, als erstes genannt, die maßgebliche Armia Krajowa (Heimatarmee) rangierte erst unter „ferner liefen“. Es entstand so der Eindruck, die Armia Ludowa sei die weitaus größere und wichtigere Einheit gewesen.

Bei Gedenkveranstaltungen hat man zwar an Ereignisse und Kämpfe der Heimatarmee erinnert, aber immer gleichzeitig an die Kämpfe unter Beteiligung der Volksarmee, um eine Gleichwertigkeit zu suggerieren. In der Presse erschienen Fotos von Ehrenwachen für die Heimatarmee gleich neben denen für die kommunistischen Einheiten.

Wie unterschieden sich die Warschauer Erinnerungsdiskurse von denen der Londoner Exilregierung im Bezug auf Narrative oder historische Figuren?

Aus heutiger Sicht eint sie vor allem eines: Beide Seiten schrieben an einem Helden-Opfer-Narrativ. Sie betonten die Aufopferung für die polnische Nation, hoben heldenhafte Taten einzelner Akteure hervor, der Heimatarmee oder generell der Aufständischen.

Auf der einen Seite gab es die kommunistischen Helden, die zum Teil künstlich erzeugt wurden. Beispielsweise wurde ein General geehrt, der de facto nicht im Aufstand gekämpft hatte. In Polen war die Situation etwas differenzierter, weil man dort die Führung der Heimatarmee und das Londoner Exil als Feinde sah. Im kommunistischen Jargon bezeichnete man sie als Reaktionäre und Agenten, die heimlich für die amerikanische bzw. die britische Regierung arbeiteten oder man titulierte sie als Handlanger der Kapitalisten. Es wurde vermittelt, dass sie womöglich mit den Deutschen paktiert haben, um eigene Vorteile daraus zu ziehen.

Gleichzeitig hätten sie die tapfer kämpfende Warschauer Bevölkerung und die einfachen Soldaten verraten und in den Tod geschickt. Dieses Helden-Opfer-Narrativ wurde so auf die einfachen Soldaten und die Zivilbevölkerung projiziert, die aufopferungsvoll und heldenhaft gekämpft haben.

Und im Londoner Exil?

In London fand diese Differenzierung nicht statt. Denn es gab eine personelle Verknüpfung zwischen den Akteuren des Aufstands und denen des politischen Exils. Der Hauptkommandeur der Heimatarmee in Warschau, Tadeusz „Bór“ Komorowski, der den Befehl zum Aufstand gegeben hatte, war von 1947 bis 1949 Ministerpräsident der Exilregierung in London. Das war ein Grund, weshalb die Exilregierung mit einer gewissen Legitimität ihre Machtansprüche artikulieren konnte.

Man pflegte hier das romantische Bild des Warschauer Aufstandes als Höhepunkt einer Reihe von Aufständen, die alle das Ziel hatten, die Unabhängigkeit und Souveränität Polens wiederherzustellen. Die Reihe beginnt mit dem Kościuszko-Aufstand nach den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert und hatte seinen vorläufigen Höhepunkt im Warschauer Aufstand. Man zeichnete also auch hier eine Traditionslinie.

Es gab zwar Kritik in London, aber die war relativ leise. Kritische ehemalige Aufständische äußerten beispielsweise, die Entscheidung zum Aufstand sei fatal und unverantwortlich gewesen. Diese Stimmen hatten aber keinen großen Einfluss auf den Diskurs.

Anders in Paris: In der dortigen Exil-Community, wo die Redaktion der Zeitschrift Kultura saß, sah man den Aufstand kritischer. Man fand, die politischen Bestrebungen der Londoner Exilregierung seien viel zu rückwärtsgewandt, viel zu romantisch verklärt. Die Akteure dort bemühten sich eher um eine Öffnung nach Europa. Sie wollten Versöhnung mit den Nachbarstaaten Polens: mit der Ukraine, der Sowjetunion und auch mit Deutschland.

Welche Bedeutung haben Erinnerungsorte in Warschau?

Eine Frau posiert vor dem Denkmal des Warschauer Aufstandes
Denkmal des Warschauer Aufstandes. Foto: Agata Nörenberg

Nach dem Zweiten Weltkrieg gedachten die Warschauer Einwohner an vielen Orten dezentral und in Eigeninitiative der Opfer. Später fand die Erinnerung zentral auf dem Soldatenfriedhof Powązki statt. Sehr lange war das Gedenken auf diesen Friedhof beschränkt. Erst 1964 kam noch die so genannte Nike-Statue mit der Aufschrift „Zu Ehren der Helden von Warschau zwischen 1939 und 1945“ hinzu – der Aufstand tritt hier also nur als ein Ereignis von vielen in Erscheinung. Dort fanden fortan verschiedene Gedenkveranstaltungen statt, unter anderen auch die offiziellen Erinnerungsfeierlichkeiten an den Warschauer Aufstand.

Bis in die 80er Jahre gab es dann kein weiteres Denkmal, bis 1983 das Denkmal für den Kleinen Aufständischen hinzukam, und 1989, unter dem Eindruck der Solidarność, das monumentale Denkmal des Warschauer Aufstandes. Erst 2004 eröffnete das gleichnamige Museum.

Die Erinnerung wird am Jahrestag aber in der ganzen Stadt gelebt: Jedes Jahr am 1. August um 17 Uhr, in der Stunde W, in der das Signal zum Aufstand erging, steht der Verkehr in Warschau für eine Schweigeminute still. Eine polnische Besonderheit sind auch die vielen Reenactments, also das Nachspielen der historischen Ereignisse des Aufstandes. Als ich eines das erste Mal selbst erlebt habe, war ich überrascht, Kinder in Uniform durch die Straßen patrouillieren zu sehen.

Welche Rolle spielt das Museum des Warschauer Aufstandes heute?

Das Museum ist seit seiner Eröffnung 2004 zu einem wahren Besuchermagnet geworden. Ein Grund ist sicher das moderne Ausstellungskonzept. In der Ausstellung wird die Geschichte des Aufstandes aber sehr heroisch dargestellt: Wenn man die Hintergründe nicht kennt, kann man fast den Eindruck gewinnen, die Aufständischen hätten 1944 gewonnen.

Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Gründung des Museums auf den damaligen Warschauer Oberbürgermeister Lech Kaczyński zurückgeht, der später bei dem Flugzeugunglück von Smolensk ums Leben kam. Seine Partei „Recht und Gerechtigkeit“ PiS sieht in der Geschichtspolitik ein Mittel, patriotische Werte, nationale Mythen usw. wieder stärker in der polnischen Gesellschaft zu verankern. Das Museum selbst ist sehr aktiv: Die Mitarbeiter organisieren Veranstaltungen, forschen und publizieren über den Aufstand. Außerdem veranstalten sie auch die Gedenkfeierlichkeiten im August mit großem Rahmenprogramm.

Regt sich gegen die politischen Vereinnahmungen des Aufstandes Widerstand?

Es gibt sehr wohl Veteranen des Aufstandes, die sich gar nicht mit der PiS identifizieren und sich daher von solcher Vermischung von Politik und einer rechtskonservativen, sehr heroisierenden, unkritischen Wiedergabe der Ereignisse distanzieren.

Und es gibt natürlich Widerstand gegen die Geschichtspolitik und Erinnerungskultur dieser Regierung. Die Stimmen äußern sich dahingehend, dass die polnische Geschichte differenzierter, nicht einfach nur aus rein nationaler Perspektive betrachtet werden muss. Dieser Konflikt zeigte sich vor Kurzem im Eklat um das Danziger Weltkriegsmuseum. Dessen Idee ist es, den Zweiten Weltkrieg in einen größeren, europäischen Kontext zu stellen. Der PiS ist dieser Zugang nicht heroisch bzw. nicht polnisch genug. Gegen deren Einflussnahme, d.h. die geplante Zusammenlegung mit dem Westerplatte-Museum, hat sich die Museumsdirektion gewehrt und sie dadurch auch vorerst gestoppt.

Muss man sich um die Wissenschaftsfreiheit unter der PiS-Regierung Sorgen machen?

Die PiS führt personelle Umbildungen dort durch, wo sie direkt eingreifen kann, zum Beispiel am Institut für Nationales Gedenken IPN. Sicherlich können wir von dort Publikationen erwarten, die der Geschichtspolitik der Regierung weitgehend entsprechen. An den Universitäten gibt es nach wie vor kritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ich hoffe, dass es dort auch künftig nicht zu Entlassungen oder Ähnlichem wegen politischer Einflussnahme kommen wird.

Dass es darüber hinaus Forschungseinrichtungen wie das Deutsche Historische Institut Warschau gibt, die den Dialog aufrecht erhalten, international vernetzt sind und eine andere Perspektive einbringen, scheint mir in diesem Zusammenhang sehr wichtig zu sein.

Sicher tragen auch internationale Konferenzen dazu bei wie diejenige über den Warschauer Aufstand, die im Mai an der Universität Heidelberg stattgefunden hat, auch wenn hier der geschichtspolitische Einfluss des Warschauer Museums schon deutlich zu spüren war.

Das Interview führte Jan Kröger.

Agata Nörenberg

Die Historikerin Agata Nörenberg promoviert an der Universität Konstanz zu „Polnischen Erinnerungsdiskursen in Heimat und Exil am Beispiel des Warschauer Aufstandes (1945–1990)“. Der Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“ hat ihre Forschung von 2011 bis 2017 gefördert.

Der Warschauer Aufstand

Am 1. August 1944 erhob sich die Polnische Heimatarmee Armia Krajowa im besetzten Warschau gegen die deutschen Besatzungstruppen. Nach 63 Tagen schlugen Wehrmacht und SS den Aufstand blutig nieder und begingen währenddessen Massenmorde an den Aufständischen und der Stadtbevölkerung.

Die Rote Armee griff (bis auf wenige Ausnahmen) nicht ein, obwohl sie dazu in der Lage gewesen wäre. Während und nach dem Aufstand zerstörten die Deutschen die Stadt fast vollständig.

Bis heute ist der Warschauer Aufstand in Polen eines der wichtigsten historischen Ereignisse, an das jedes Jahr mit Gedenkfeiern erinnert wird.