Das Fortschreiben einer Legende
Zum Mythos der Historiker vom Piraten als Freiheitsrebell und Sozialbandit
von Michael Kempe
Wir befinden uns im Jahre 1719 n. Chr. Ganz Europa und Amerika sind von undemokratischen Potentaten besetzt… Ganz Europa und Amerika? Nein! Einige von unbeugsamen Piraten bevölkerte Schiffe hören nicht auf, den absolutistischen Herrschern Widerstand zu leisten. Davon gehen jedenfalls heute sehr viele Historiker aus und stoßen damit auf große Resonanz (vgl. etwa Thomas Speckmann in der F.A.Z. vom 28.01.09).
Dabei verweisen sie auf die angeblich demokratische Binnenstruktur piratischer Vereinigungen, die sich damit ausdrücklich von der sie umgebenden starren hierarchischen Standesgesellschaft absetzten. Als einer dieser unbeugsamen Seeräuber wird etwa Bartholomew Roberts („Black Bart“) identifiziert, der 1719 während seiner Atlantikfahrten eine kleine Flotte von Piratenschiffen um sich scharte, für die er Gesetze erließ, die auf den Prinzipien von Gleichheit, Freiheit und Mitbestimmung basierten. In dieser Piratendemokratie erblicken Historiker wie Christopher Hill, Marcus Rediker, Stephen Snelders und andere den Entwurf einer Gegenkultur zum Absolutismus und den Beginn der Entstehung des modernen Proletariats.
Maritime Robin Hoods und Sozialbanditen
Die Geschichte erzählt sich etwa so: Mit der Wiederherstellung der Monarchie in England emigrierten ab den 1660er Jahren fundamentaldemokratische und radikalreligiöse Gruppen in den westindischen Raum. Ihr gesellschaftskritisches Gedankengut pflanzte sich in den Köpfen der Bukanier und Flibustier fort, die von den Kleinen Antillen aus, mit Kaperbriefen der Engländer, Franzosen und Holländer versehen, immer wieder Raubzüge gegen das spanische Imperium in Amerika unternahmen. Von ihren Auftraggebern im ausgehenden 17. Jahrhundert in die „Arbeitslosigkeit“ gedrängt, organisierten sich die karibischen Piratengruppen zu autonomen Verbänden, deren meist international zusammengesetzte Bordbesatzungen unterschiedslos Schiffe aller Länder überfielen.
Es den Reichen stehlen und sich selbst als (noch) Armen geben – Christopher Hill sah in den Karibikpiraten maritime Robin Hoods und bezeichnete sie mit Eric Hobsbawm als „Sozialbanditen“. Gewalttätig nach außen, schufen sie nach innen ein demokratisches Regelwerk. Bartholomew Roberts’ Gesetze („Artikel“) etwa garantierten den Seeräubern die Wahl des Kapitäns aus ihrer Mitte. Für alle galt ein Grundrecht auf ausreichend Nahrung und Alkohol. Die Beuteaufteilung war genau geregelt, und eine Art Invalidenversicherung sollte gewährleisten, dass den im Enterkampf Verwundeten eine Entschädigung gezahlt wurde.
Als symbolischer Ausdruck ihrer Herrschaftsfreiheit trugen die Meeresbriganten individuelle, bunte, kostümartige Kleidung zur Schau – für den Historiker Rüdiger Haude Ausdruck des politischen Egalitarismus im Sinne der von Michail Bachtin diagnostizierten karnevalesken Gegenkultur zum bestehenden Herrschaftssystem. Klar, dass die so Provozierten nicht lange stillhielten. Bis Ende der 1720er Jahre gelang es den kolonialen Mächten, allen voran Frankreich und England, durch ein hartes Vorgehen der außer Kontrolle geratenen Freibeuterei wieder Herr zu werden. Als deren Erbmasse blieb eine Seeräuberethik erhalten, die den ausgebeuteten Matrosen des 18. Jahrhunderts zur Ausbildung eines eigenen Klassenbewusstseins mit verhalf, das die Meeresproletarier später dann an die Industrieproletarier des 19. Jahrhunderts weiterreichten.
Fakten und Fiktionen
So passt alles gut zusammen. Fast zu gut. Wer sich fragt, woher all diese Informationen stammen, der stößt rasch auf eine Quelle, die unisono von allen Historikern der Piratendemokratie als zentrale Kernreferenz ihrer Behauptungen herangezogen wird. Gemeint ist die 1724 erstmals publizierte „General History of the Robberies and Murders of the most notorious Pyrates“, deren Autor manche Historiker für Daniel Defoe halten. In der „General History“ sind Fakten und Fiktionen, Wirklichkeit und Imagination untrennbar miteinander verbunden. Ob Tatsachenbericht, Seemansgarn oder eine Mischung aus beidem, Geschichtsforscher lassen sich immer wieder dazu hinreißen, das darin Erzählte für bare Münze zu nehmen, sofern sie darin etwas Verwertbares zur Stützung ihre Thesen finden.
Doch wäre es zu einfach, lediglich festzustellen, die betreffenden Forscher würden hier vornehmlich ihre eigenen politischen Präferenzen in die Abenteuergeschichten von Bartholomew Roberts und Co. hineinprojizieren. Die Sache ist ungemein komplizierter. Wenn etwa Captain Misson in der „General History“ als wohlmeinender Herrscher erscheint, der seinen Männern die natürlichen Rechte und Freiheiten zu garantieren habe und von diesen abgesetzt werden könne, falls seine Kapitänsherrschaft in Tyrannei ausarte, dann wurden hier Räuber der übelsten Sorte zu Verkündern einer demokratischen Theorie im Sinne von Monarchiekritikern wie John Locke und anderen liberalen Denkern der frühen Aufklärung. Ausgerechnet aus dem Munde eines von ihm zu verabscheuenden Schwerverbrechers wurde hier der Frühaufklärer mit seiner eigenen Naturrechtsphilosophie konfrontiert.
Legendenbildung seit der Französischen Revolution
Der Beginn eines Mythos als Kritik am Selbstwiderspruch bürgerlicher Emanzipation? Jedenfalls trugen Aufklärer und Revolutionäre weiter entscheidend zur Legendenbildung mit bei. Als das revolutionäre Frankreich 1793 auf einen europäischen Krieg zusteuerte, wurden berüchtigte Korsaren des absolutistischen Frankreichs wie Jean Bart oder René Dugay-Trouin rückwirkend zu Vorkämpfern für Freiheit und Gleichheit umdefiniert. Mit Bezug auf verschiedene politische Ideale verfestigte sich im 19. Jahrhundert die Vorstellung von Piratenschiffen als Mikrokosmen oder Inkubationsgehäuse von wahlweise Republikanern, Revolutionären, Kommunisten oder Anarchisten.
In seiner „Geschichte der Flibustier“ beschrieb Johann Wilhelm Archenholtz 1803 die Gemeinschaft der karibischen Piraten des 17. Jahrhunderts als „auf den Westindischen Meeren schwimmende Republik geborner Europäer“, deren alleiniges Staatsgebiet das Schiff sei. Ein maritimes Staatsgebiet, das Michel Foucault später als Millieu des Uneinheitlichen verstehen sollte: „Das Schiff ist die Heterotopie par excellence. Zivilisationen, die keine Schiffe besitzen, sind wie Kinder, deren Eltern kein Ehebett haben, auf dem sie spielen können. Dann versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteurers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle der glanzvollen Freibeuter die häßliche Polizei.“
Auf der anderen Seite wäre es eine grobe Verkürzung, würde man die These von der Seeräuberdemokratie als bloßes literarisches Konstrukt sozialrevolutionärer Traumwelten bezeichnen. Auf die Existenz von Piratengesetzen – dem Kernbeleg der Piratendemokratiethese – lassen sich Quellenhinweise tatsächlich auch außerhalb der „General History“ und anderer populärer Reise- und Memoirenliteratur nachweisen. So etwa enthalten die in den Londoner „National Archives“ überlieferten Gerichtsprotokolle zum Verfahren gegen die verhafteten Seeräuber aus der Freibeuterflottille Bartholomew Roberts’ mehrfach Erwähnungen der „Piratical Articles“, die von seinen Gefolgsleuten unterzeichnet wurden. An der Küste Guineas hatte der dreiste Piratenkapitän aus Pembrokshire seit 1721 zahlreiche Sklavenschiffe überfallen, aber nicht etwa um die Versklavten zu befreien, sondern diese gewinnbringend an illegale Menschenhändler weiterzuverkaufen. Wie bei den meisten bürgerlichen Liberalen in England umfasste auch Roberts’ Egalitäts- und Freiheitsbegriff offenbar nicht wirklich unterschiedslos jeden Menschen.
Unter Piraten war es üblich, die besten Matrosen eines überfallenen Schiffes in die eigenen Reihen aufzunehmen – durch Überredung oder mit Gewalt. Manche muss man eben zu ihrem Glück zwingen.
Nachdem Roberts im Gefecht mit englischen Kriegsschiffen im Februar 1722 vor der westafrikanischen Küste ums Leben kam, wurden die überlebenden Piraten von den Marinesoldaten gefangengenommen und in Cape Coast Castle (im heutigen Ghana) vor Gericht gestellt. Nicht weniger als 74 der 165 Männer ließ man im Laufe des Verfahrens frei, da sie die Richter davon überzeugen konnten, sie seien mit Gewalt gezwungen worden, Roberts’ Piratenartikel zu unterschreiben und mit den Raubjägern gemeinsame Sache zu machen. Wie viele von ihnen damit nur eine Schutzbehauptung vorbrachten, lässt sich nicht mehr sagen. Außer Zweifel steht jedoch, dass es unter Piraten üblich war, die besten Matrosen eines überfallenen Schiffes in ihre eigenen Reihen aufzunehmen, entweder durch Überredung oder mit Gewalt. Manche muss man eben zu ihrem Glück zwingen – zumindest ließen sich Roberts’ Schergen damit zu Vorläufern moderner Realsozialisten erklären.
Pragmatische Piratengesetze
Wie aber sah es nun mit den Piratengesetzen selber aus? Rüdiger Haude räumt ein, dass man freilich auch hier wie sonst mit einer Differenz zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit zu rechnen habe. Schauen wir uns noch einmal die Gesetze von „Black Bart“ genauer an. Neben den oben erwähnten Regeln mit demokratischen Elementen zielte die Mehrheit der „Artikel“ – in der Überlieferung Captain Charles Johnsons – auf die Stabilität einer militärisch einsatzbereiten und schlagkräftigen Organisation. Die Festlegung von Strafen bei Streit oder Betrug, das Verbot von Geldspielen, die Einhaltung der Nachtruhe unter Deck oder die Pflicht der Instandhaltung der Waffen verweisen weniger auf politische Ideale, sondern zeugen eher davon, so auch der Wirtschaftshistoriker Peter T. Leeson, dass sie zur Disziplinierung der Mannschaft und effektiven Durchführung ihrer Raubunternehmungen aufgestellt wurden.
Folgt man den Ausführungen in der „General History“ (ohne ihnen freilich rückhaltlos zu vertrauen), so erließ Roberts seine Gesetze erst, nachdem einer der ihm untergeordneten Kapitäne sich heimlich mit einem von Roberts’ Schiffen auf und davon gemacht hatte. Nicht ohne Grund findet sich unter seinen „Artikeln“ auch eine Nichtausstiegsklausel, welche die Piraten dazu zwingen sollte, das Räuberschiff nicht eher zu verlassen, bevor nicht jeder über eine Prise in der Höhe eines bestimmten Wertes verfügte. Denn viele der Piraten wollten keineswegs alle Brücken hinter sich abbrechen. Im Gegenteil: sie verstanden sich als temporäre Abenteurer, die vom Reichtum schneller Beute gelockt (und in der Regel enttäuscht) wurden, um nach erfolgreicher Raubfahrt wieder in ihr wohlbehütetes bürgerliches Leben in Boston oder New York zurückzukehren.
Unterwürfigkeit oder Opportunismus konnte man zumindest Bartholomew Roberts allerdings nicht vorhalten. Ein zeitgenössisches Kupferblatt zeigt ihn und seine Flotille mit seinem persönlichen „Jolly Roger“, einer schwarzen Flagge, auf dem ein Skelett zu sehen ist, das höhnisch einem westindischen Gouverneur zuprostet. Wie jeder etwas clevere Verbrecher wusste auch Roberts, belastendes Beweismaterial verschwinden zu lassen. Will man der „General History“ glauben, so ließ er das Schriftstück mit den Piratenartikeln, nachdem alle darauf geschworen hatten, über Bord werfen. Ob aus politischem Freiheitsdrang, aus reiner Beutegier oder aus beiden Motiven zugleich heraus gehandelt wurde, mag dahingestellt sein, jedenfalls mangelte es Roberts und seinen Kumpanen nicht, wie wir heute sagen würden, an einem hohen Maß krimineller Energie.
Vorläufer der heutigen Somaliapiraten?
Waren einige Historiker der 1970er und 1980er Jahre primär daran interessiert, die Geschichte des Klassenkampfes und der Arbeiterbewegung bis in das ausgehende 16. Jahrhundert zurückzuverlängern, scheinen gegenwärtig manche die Sozialrebellen-These auf die historischen Karibikseeräuber aus einem anderen Grund zu übertragen: nämlich, um in ihnen Vorläufer der heutigen Somaliapiraten erblicken zu können, die sich aus Not und Elend heraus gegen die Ausbeutung ihrer Fischbestände durch internationale Fangflotten zur Wehr setzten. Globalisierungsverlierer als Räuberrebellen in Badelatschen und Gummibooten? Einer solchen Übertragung ließe sich die bereits an Hobsbawm geübte Kritik reformulieren, dass eine klare Differenzierung zwischen gewöhnlichem Verbrecher und edlem Räuber letztlich nicht durchzuhalten ist.