Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Postheroische Helden?

Konturen einer Zeitdiagnose

Von Ulrich Bröckling

Klassische Heldendarstellung von Herkules
Sind klassische Helden noch zeitgemäß?
Francisco de Zurbarán, Herkules Kampf gegen den nemeischen Löwen (1634).

Appelle an heroische Tugenden und die Berufung auf Heldengestalten sind nach 1945 in den westlichen Gesellschaften in Verruf geraten. Mit gutem Grund, haben sich die vormals gefeierten Heldentaten doch bei genauerem Hinsehen allzu oft als Untaten entpuppt. Insbesondere militärischer Heroenkult gilt als moralisch nicht länger zu rechtfertigen. In den 1980er-Jahren tauchte dann erstmals in unterschiedlichen Kontexten ein bis dahin unbekannter Begriff auf, der des Postheroischen. Wie andere mit dem Zusatz „post-“ versehene Epochensignaturen glänzt er nicht gerade durch Präzision: Mal bezeichnet er eine spezifische Mentalität, dann wieder eine Etappe im Modernisierungsprozess oder einen Modus der Kriegführung. Postheroisch kann sich aber ebenso auf einen zeitgemäßen Führungsstil beziehen oder ein Politikverständnis charakterisieren, das den Traum des Durchregierens aufgegeben hat. Generell werden auch Einstellungen so bezeichnet, die allergisch auf Pathosformeln reagieren, für Appelle an Opferbereitschaft taub sind und zur Verehrung großer Männer allenfalls ein ironisches Verhältnis pflegen. Leben wir also in einer postheroischen Gesellschaft?

Heldendämmerung

Den Eintritt in eine postheroische Ära diagnostizierten zuerst politische und militärwissenschaftliche Abhandlungen über die Zukunft des Krieges.1 Westliche Gesellschaften seien, so die These, weder willens noch in der Lage, längerfristig hohe militärische Verluste in Kauf zu nehmen. Als Ursache dafür wird angeführt, dass im Zuge kollektiven Wertewandels die Abneigung gegen kriegerische Zumutungen gestiegen ist, vor allem aber werden demografische Faktoren ins Spiel gebracht. Das Argument ist simpel: Solange Kinder und Jugendliche das Gros der Bevölkerung ausmachten, hat man den Kriegstod eines oder mehrerer Söhne eher hingenommen. Zeitgenössische Gesellschaften dagegen, in denen die Alten in der Mehrheit sind und die meisten Kinder ohne oder mit nur einem Geschwister aufwachsen, sind dazu nicht mehr bereit. Die Verlustängste der Eltern sind im gleichen Maße gestiegen, wie die durchschnittliche Kinderzahl abgenommen hat. Auch der Nachwuchs selbst zeigt sich wenig gewillt, sein Leben fürs Vaterland, die Freiheit oder für welche Ziele auch immer aufs Spiel zu setzen. Und da demokratisch gewählte Regierungen nicht längerfristig gegen den Willen ihrer Bürgerinnen und Bürger regieren können, sie würden sonst abgewählt, muss smarte Technologie übernehmen, wofür bisher Kampfeswille und Opferbereitschaft mobilisiert werden konnten. Paradigmatisch für den postheroischen Krieg ohne Gefährdung der eigenen Truppen steht der Einsatz bewaffneter Drohnen.

Organisations- und Managementtheoretiker entwerfen wiederum Modelle „postheroischer Führung“.2 Sie argumentieren, dass die Lenkung von Unternehmen, aber auch politisches Krisenmanagement zu vielschichtig und ihre Auswirkungen zu gravierend sind, um sie von der Willenskraft, dem Mut und der Entschiedenheit Einzelner abhängig zu machen. Zeitgemäß seien vielmehr partizipative Entscheidungsstrukturen, die Eigeninitiative und Improvisationsfähigkeit fördern. Andere plädieren gleich dafür, von heroischem Durchhalten auf postheroisches Durchwursteln umzustellen.3 Probleme sollen kleingearbeitet und Kompromisse ausgehandelt werden, statt tollkühn das Ganze aufs Spiel zu setzen. Für die Moderation von Selbstorganisationsprozessen erweisen sich heroische Draufgänger eher als hinderlich. Nicht brachiales Durchschlagen Gordischer Knoten, sondern kunstvolles Knüpfen von Netzwerken ist gefragt.

In die gleiche Richtung gehen psychologische Studien, die den zeitgenössischen Sozialcharakter einer „postheroischen Persönlichkeit“ identifizieren. Dieser Typus habe sich, schreibt etwa der Frankfurter Sozialisationsforscher Martin Dornes, „von einer ‚heroischen‘ Unterdrückung eigener Impulse ebenso verabschiedet wie von einem ‚heroischen‘ Aus- und Durchhalten einmal getroffener Entscheidungen.“4 Er sei hochgradig flexibel, erkaufe seine Beweglichkeit jedoch mit dem Zwang zu fortwährender Anpassung an einen beschleunigten sozialen Wandel. Glaubt man schließlich dem Kulturwissenschaftler Diedrich Diederichsen, so ist selbst die Popmusik inzwischen in die postheroische Phase eines „Gegenkulturalismus ohne Gegenkultur“ eingetreten.5

Auch wenn die unterschiedlichen Postheroismus-Diagnosen erst einmal unverbunden nebeneinander stehen, verdichten sie sich in der Summe doch zu einem Zeitbild. Ist die Ära der Helden vorbei? Wohl kaum. Wie die Postmoderne nicht mit einem Abschied von der Moderne gleichzusetzen ist, bezeichnet auch die Rede vom postheroischen Zeitalter nicht, dass heroische Orientierungen ihr Ende finden, sondern dass sie problematisch werden. Ihre Anziehungskraft ist damit keineswegs erschöpft. Der Fragwürdigkeit von Heldenfiguren in der Gegenwart steht vielmehr ein fortdauernder Heldenhunger gegenüber, der von der Populärkultur reichlich bedient wird.

Heroen im 21. Jahrhundert
Verkehrszeichen mit Warnung "From Hero to Zero"
Warnung am Straßenrand: "From Hero to Zero".

Helden mögen als Relikte vergangener Zeiten in die Gegenwart hineinragen, aber das Heldenschema hat sich bis jetzt als flexibel genug erwiesen, um nicht ganz von der Bildfläche zu verschwinden. Die Figuren wandeln sich, doch für Nachschub ist weiter gesorgt. Wiederbelebte und neu geschaffene Heldenfiguren bevölkern die Welten der Comics, Filme und Computerspiele; auch der Leistungssport liefert fortlaufend heroisierbares Personal. Retterfiguren wie die Feuerwehrleute von 9/11 werden ebenso zu Helden erklärt wie Friedensaktivisten, Bürgerrechtler und Whistleblower. Verehrt werden politische Freiheitskämpfer wie Nelson Mandela, Václav Havel und Mahatma Gandhi oder jener anonyme Tank Man, der sich 1989 auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens allein den vorrückenden Panzern entgegenstellte. Bezeichnend ist, dass dieser Heroismus nicht länger an Pflichterfüllung und Gefolgschaftstreue gekoppelt wird, die neuen Helden zeichnen sich vielmehr durch Nonkonformismus und Gehorsamsverweigerung aus. Aus Heldenmut wird Zivilcourage. Parallel dazu zeigt sich eine Demokratisierung und Veralltäglichung des Heroischen. Letztlich kann jede und jeder zum Helden werden, und sei es nur für jene fifteen minutes of fame, auf die nach Andy Warhol in der Ära der Massenmedien niemand verzichten muss. Vollends entleert wird der Begriff in der Sprache des Marketings, wo die Ware ihren Käufer zum Helden adeln soll oder gleich selbst heroisiert wird. Die Leipziger Brauerei Ur-Krostitzer wirbt mit dem Slogan „Wahre Helden stehen mitten im Leben“, die Dessous-Marke Hunkemöller feiert ihre Kundinnen als „Sheroes“, und Aldi-Süd kürte vor einiger Zeit gar eine Kuchenglasur zum „Helden des Alltags“. Beispiele wie diese lassen sich kulturkritisch als Trivialisierung verbuchen, man kann darin aber auch eine heilsame Entgiftung sehen: Etwas Luft aus den aufgeblasenen Heldenfiguren zu lassen und mit ihren Symbolen ironisch zu spielen, ist allemal menschenfreundlicher, als heroische Durchhalteparolen auszugeben.

Die Diagnose einer postheroischen Ära stellt sich somit als widersprüchlich dar: So wenig von einer ungebrochenen Kontinuität von Heldenmythen auszugehen ist, so wenig überzeugen pauschale Diagnosen eines heldenlosen Zeitalters. Man wird eher von einer gegenstrebigen Gleichzeitigkeit von Heldenbeschwörungen und -demontagen ausgehen müssen. Das gilt selbst für das traditionelle Bewährungsfeld des Heroischen par excellence, den Krieg. Auch postheroische Gesellschaften sind durchaus fähig und bereit, Kriege zu führen, indem sie den Schwund an menschlicher Kampf- und Opferbereitschaft durch technologische Überlegenheit kompensieren. Wer seine Waffen per Fernsteuerung dirigiert, kann auf Heldenmut gut verzichten. Offenkundig provozieren aber gerade die postheroischen High-Tech-Kriege heroische Gegenreaktionen. Sie treiben dem globalisierten Dschihadismus fortlaufend neue Kämpfer zu, deren Stärke nicht auf ihren Waffensystemen, sondern auf ihrem unbedingten Willen zu Vernichtung und Selbstvernichtung beruht. Luftangriffe aus sicherer Distanz auf der einen, terroristische Anschläge auf der anderen Seite verhalten sich komplementär zueinander und verstärken sich wechselseitig. Den Kampfdrohnen als Ikonen postheroischer Kriegführung korrespondiert die nicht minder ikonische Gestalt des Selbstmordattentäters. Auch er ein zeitgenössischer Heldentyp.

Wir werden die Helden nicht los, mögen wir noch so sehr darüber streiten, wer diesen Titel verdient und ob es überhaupt erstrebenswert wäre, ihn sich zu verdienen. So lange politische oder religiöse Mächte auf Opferbereitschaft angewiesen sind, so lange der verallgemeinerte Wettbewerb die Einzelnen zu fortwährender Selbstüberbietung nötigt und sie in den Kampf gegen die Konkurrenz treibt, so lange Ohnmachtserfahrungen Phantasmen der Größe hervortreiben und die Reglementierungen des Alltags die Sehnsucht nach Grenzverletzungen befeuern – so lange wird man Helden suchen und finden. Wo immer sie auftauchen, wird man sie als Problemanzeiger verstehen müssen. Sie sind der Index dessen, was die Gesellschaft den Menschen abverlangt. „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat“, heißt es in Brechts Galileo. Glücklich wäre demnach ein Gemeinwesen, das auf Opferkulte und moralische Aufrüstung verzichten kann. Kurzum, wir sind nicht postheroisch, aber es zu werden, wäre vielleicht eine gute Idee.

 


1. Vgl. Luttwak, Edward N., „Toward Post-Heroic Warfare“, in: Foreign Affairs 74.3 (1995), S. 109-122. Münkler, Herfried, Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswist 2006.

2. Vgl. Baecker, Dirk, Postheroische Führung. Vom Rechnen mit Komplexität, Wiesbaden 2015.

3. Vgl. Schimank, Uwe, „Nur noch Coping: Eine Skizze postheroischer Politik“, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 21.3 (2011), S. 455-463.

4. Dornes, Martin, Die Modernisierung der Seele, Frankfurt/M. 2012, S. 320.

5. Diederichsen, Diedrich, Über Popmusik, Köln 2014, S. 390.

Porträt Ulrich Bröckling

Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Während seines Aufenthalts am Kulturwissenschaftlichen Kolleg 2016/17 forschte er zum Thema „Postheroische Gesellschaften? Konturen einer Gegenwartsdiagnose“. Außerdem vollendete er sein Buch Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, das 2017 im Suhrkamp Verlag erschien.

Themen Thesen Texte

Cover

Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 7/2018.

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Inhalt

First Ladies
Das weibliche Erbe der Monarchie
Sophie Schönberger

Auf der anderen Seite des Grabens
Albrecht Koschorke

Populismus
Eine vergleichende Erklärung
Philip Manow

Shakespeares Comeback in Serie
Christina Wald

Postheroische Helden?
Konturen einer Zeitdiagnose
Ulrich Bröckling

Europas Frühe Neuzeit
Das Projekt einer Gesellschaftsgeschichte
Rudolf Schlögl

Musikalische Migrationsgeschichten
Erzählen, Inszenieren, Aufführen und Medialisieren
Ulrike Präger

Magie im Mittelalter
Schwindel oder Wissenschaft?
David J. Collins

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Interview mit Kirsten Mahlke