Wenn Verwaltungsversagen tödliche Folgen hat
Von Claudia Marion Voigtmann
Vor genau sieben Jahren, am 24. Juli 2010, kam es zur Katastrophe bei der Loveparade in Duisburg, einer Veranstaltung, die aus behördlicher Perspektive eigentlich nie hätte stattfinden dürfen.
„Es gab eindeutige Sicherheitsvorschriften für das abgeschlossene Areal. Und von Anfang an war als problematisch bekannt, dass es nicht nur die beschränkte Zugangswege gab sondern selbige auch identisch mit den Abgangswegen waren,“ erklärt Prof. Dr. Wolfgang Seibel, Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz und Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Die Mitarbeiter des Bauordnungsamtes hätten klar artikuliert, dass die strikten Vorgaben in diesem Areal gar nicht einzuhalten waren.
Wie also konnte es dazu kommen, dass bei aktenkundig schlechter Sicherheitslage die Genehmigung für die Veranstaltung doch erteilt wurde?
Duisburg ist einer der seltenen Fälle von schwerwiegenden Organisationsversagen in Deutschland, die das wissenschaftliche Interesse von Seibel geweckt haben. Er hat nicht nur (mit Kevin Klamann und Hannah Treis als Co-Autoren) für den Campus-Verlag einen Band mit dem Titel „Verwaltungsdesaster“ vorbereitet.
Auch in seinem jüngst bewilligten Koselleck-Projekt „Schwarze Schwäne in der Verwaltung: Seltenes Organisationsversagen mit schwerwiegenden Folgen“ wird er über dieses Thema forschen. Dazu will Seibel etwa 20 Fälle in Deutschland, Europa und den USA in verschiedenen Bereichen untersuchen, die von öffentlicher Infrastruktur (Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall 2006 oder Zusammenbruch des Kölner Stadtarchivs 2009) über jugendamtliche Fürsorge (Fälle schwerster Kindesmisshandlung in Bremen und Hamburg) bis hin zu Katastrophenschutz (etwa nach Hurricane Katrina 2005) und der Organisation von Massenveranstaltungen reichen.
Dass diese Fälle so selten sind, liegt laut Seibel daran, dass gängige Schwächen, „Standardpathologien“ von Verwaltungen – wie etwa Koordinations- oder Kommunikationsprobleme oder Rivalitäten um Zuständigkeiten – bekannt sind und entsprechende Vorschriften dagegen geschaffen worden sind. Es könne aber vorkommen, so seine These, dass bei starken Gegenanreizen solche Vorschriften missachtet werden.
Die Seltenheit der Fälle wiederum begründet auch die Schwierigkeit, sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinanderzusetzen, um eine kritische Anzahl von Fällen bei einem homogenen Niveau valider Quellen zu erreichen. Als Koselleck-Projekt, das als Format sehr innovative bzw. im „positiven Sinn risikobehaftete Projekte“ fördern will, wird sein Vorhaben von der DFG mit 500.000 Euro (zuzüglich der DFG-Programmpauschale) über fünf Jahre lang gefördert.
Will Seibel damit auch einen Beitrag leisten, dass solche Katastrophen künftig nicht mehr vorkommen? Verwaltungen lernten aus solch spektakulären Fällen ohnehin, zumal gerade in Deutschland stets versucht werde, jegliches Risiko zu vermeiden, meint der Wissenschaftler. Wichtig sei, dass im Falle von Entscheidungsdilemmata Gegenanreize rechtzeitig erkannt und gebannt werden:
„Die Kunst in der Verwaltung besteht darin, den Spielraum an pragmatischen Lösungen, der ihr gegeben ist, von Null-Toleranz-Fällen zu unterscheiden.“
Prof. Dr. Wolfgang Seibel lehrt Innenpolitik und öffentliche Verwaltung an der Universität Konstanz. Er ist Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters und Permanent Fellow des Kulturwissenschaftlichen Kollegs Konstanz. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung (Suhrkamp 2016)“.
Publikationen
Wolfgang Seibel, Kevin Klamann und Hannah Treis unter Mitarbeit von Timo Wenzel: Verwaltungsdesaster. Von der Loveparade bis zu den NSU-Ermittlungen. Frankfurt M., New York: Campus 2017
Wolfgang Seibel:
Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung. Berlin: Suhrkamp 2016
Pressemitteilung
Schwarze Schwäne in der Verwaltung
Verwaltungswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Seibel erhält Reinhart-Koselleck-Projekt zur Erforschung von schwerwiegendem Verwaltungsversagen. Pressemitteilung der Universität Konstanz
Medienecho
Interview: Warum Behörden tödliche Fehler machen
Wie konnte es zu Ereignissen wie dem Loveparade-Unglück kommen? Warum blieb die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) so lange unentdeckt? Solchen Fragen will der Konstanzer Verwaltungswissenschaftler Professor Wolfgang Seibel auf den Grund gehen. Im Interview mit Katja Korf erläutert er, worum es geht.
Schwäbische Zeitung, 2. August 2017