Migration und Popmusik
Die neuen Helden einer transnationalen Erzählung
von Ana Sobral
Ein Junge wächst in Somalia auf. Der Ausbruch des Bürgerkriegs beendet jäh seine Kindheit, er lernt, Waffen zu tragen, verliert drei seiner Freunde und entgeht selbst nur knapp dem Tod. Während seine Heimatstadt Mogadishu wie das ganze Land im Chaos eines gewaltreichen Bürgerkriegs versinkt, gelingt seiner Familie gerade noch die Flucht, mit dem letzten Flug nach New York. Zu dem Zeitpunkt ist er gerade mal dreizehn Jahre alt. Erlebnisse, die ihre Spuren hinterlassen. Gibt es einen Weg, seine traumatischen Kindheitserlebnisse zu bewältigen?
We begin our day by the way of the gun,
Rocket propelled grenades blow you away if you front,
We got no police ambulance or fire fighters,
We start riots by burning car tires,
They looting, and everybody start shooting,
Bullshit politicians talking ‘bout solutions, but it‘s all talk […]
(K’naan, „What’s Hardcore?“, 2005)
2010 wurde der Rapper K’naan mit dem Lied „Waving Flag“ (2009) zu einem internationalen Star, nachdem Coca Cola es in einem Werbespot für die Fußballmeisterschaft in Südafrika verwendet hatte. Die Originalversion des Lieds erzählt von K’naans Kriegserfahrungen in seinem Geburtsland Somalia. Als Flüchtling in Kanada aufgewachsen, verarbeitete K’naan seine Kriegserinnerungen durch Gedichte und Rapmusik. Heute ist er ein international bedeutender Künstler und tritt häufig als Sprecher für Somalia oder Afrika insgesamt auf, wobei er gerade auch zu politischen Fragen Stellung nimmt: etwa in einem Aljazeera-Interview, wo er den eigentlichen Ursprung der somalischen Piraterie mit der illegalen Fischerei vor der afrikanischen Küste durch die Europäer erklärt. Außerdem schrieb der Rapper ein Kinderbuch über seine eigenen Erfahrungen als Kind im somalischen Bürgerkrieg und als Flüchtling in Nordamerika. Gerade arbeitet er als Regisseur an einem Film über einen somalischen Dichter im Exil, der nach Mogadischu zurückkehrt. Der Film wurde 2015 vom Sundance Institute in den USA – einer der wichtigsten Plattformen für Alternativkino – mit dem Global Filmmaking Award ausgezeichnet. Warum hat K‘naan gerade die Rapmusik als zentrales Medium gewählt, um seine Geschichte zu erzählen?
Migrationsmusik als ‚Heilmittel‘
Die Vielfältigkeit dieses Künstlers, sein Migrationshintergrund und seine biographisch geprägten Songtexte sind symptomatisch für eine Entwicklung in der gegenwärtigen westlichen Popmusik, die sich seit den späten 90er Jahren feststellen lässt. In Zeiten der Globalisierung stoßen Themen wie Krieg, Flucht, Immigration, Integration und kulturelle Identität auch in der Popmusik immer häufiger auf große Aufmerksamkeit. Künstlerinnen und Künstler, die sich auf ihre eigenen Erfahrungen beziehen, gelten als besonders authentische Vertreter einer Kategorie, die man ‚Migrationsmusik‘ nennen könnte. Wie in der Migrationsliteratur wird hier die Perspektive der Nichteinheimischen in westlichen Gesellschaften hervorgehoben. Interessant ist vor allem die narrative Dimension der Migrationsmusik. Globalisierung wird anhand von persönlichen Geschichten inszeniert.
Nehmen wir K’naan weiter als Beispiel: Seine Biographie wird nicht nur in seinen Liedtexten und in der Musik selber präsentiert, beispielsweise indem er somalische Melodien einarbeitet und afrikanische Instrumente und Gesangstechniken verwendet; auch in unzähligen Interviews erzählt K’naan im Detail über seine furchtbaren Kriegserlebnisse und seinen Versuch, das darin begründete Trauma durch Rapmusik zu überwinden. Selbst in den Rezensionen seiner Alben lesen wir wiederholt seine Geschichte. Bis heute dienen ihm seine Lieder als eine Art Zeugnis der eigentlichen Tragödie des somalischen Kriegs. Die neuen Rollen des Rappers als Schriftsteller oder als Regisseur erweitern dieses Narrativ noch, aber im Grunde werden genau dieselben Themen behandelt. So wird der Name K’naan für alle, die seine Arbeit kennen, zu einer Art Marke und einer Referenz auf die jüngste Geschichte Somalias, auf die dramatischen Erfahrungen von Kindersoldaten, den Kampf von Flüchtlingen um Schutz und Anerkennung im Westen, den Triumph von (Pop-)Musik über große persönliche Schwierigkeiten.
Rap-Experten jeder Art – von Fans bis zu Forschern – mögen argumentieren, es handle sich hier schlichtweg um eine Kerneigenschaft dieses Genres, denn die Performanz von realness, also Echtheit, steht seit den Ursprüngen des Rap in den afro-amerikanischen Ghettos der späten 70er Jahre im Mittelpunkt. Rapmusiker sollen, so wird erwartet, vom (eigenen) Leben auf den Straßen berichten, von den Schwierigkeiten der afro-amerikanischen Bevölkerung, sich in einem ungerechten sozio-ökonomischen System durchzusetzen, und vom Triumph der afro-amerikanischen Kultur und des Individuums trotz solcher Probleme. Der berühmte Rapper Chuck D von der Gruppe Public Enemy behauptete Mitte der 80er Jahre, Rap sei „das CNN der schwarzen Bevölkerung“. Ist also K’naan lediglich eine internationale(re) Stimme im gegenwärtigen afro-amerikanischen Rap, die unsere Aufmerksamkeit auf neue Migrationswellen von Afrika nach Nordamerika lenkt?
Gypsy Punk
Die Tendenz zu stark autobiographischen Inszenierungen in der gegenwärtigen Popmusik ist aber nicht auf Rap begrenzt. Ein genauso passendes Beispiel findet man in der Rock-/Punkmusik in der Gestalt von Eugene Hütz, Sänger und Songwriter der transnationalen Gruppe Gogol Bordello. Als Gruppe von (US-) amerikanischen Immigranten unterschiedlicher Herkunft – wie der Ukraine, Russland, Schottland, Hong Kong, Äthiopien und Ecuador – feiern Gogol Bordello mit fröhlicher Musik und karnevalistischen Live-Auftritten die bunte Seite Amerikas als globalen melting pot. Im Zentrum ihrer Arbeit steht aber Eugene Hütz selber: Seine Songtexte, Interviews, schriftlichen Beiträge in der Presse sowie in Büchern und auch seine Auftritte als Schauspieler in Filmen oder Hauptfigur in Dokumentationen erzählen ein und dieselbe Geschichte, die mit seiner eigenen Biographie eng verbunden ist.
Während K’naan seine Erfahrungen als Flüchtling betont, geht es in vielen von Hütz’ Texten und Erzählungen um seinen langjährigen Status als illegaler Einwanderer in Europa und den USA. Überdies schoben ihn die Roma-Wurzeln seiner Familie sowohl in Osteuropa als auch im Westen ins gesellschaftliche Abseits. Nach vielen Jahren als illegaler Immigrant und Schwarzarbeiter in den USA verwirklichte sich Hütz schließlich als Punkmusiker mit einem besonderen Sound, den er selbst „Gypsy Punk“ taufte. Wie im Falle von K’naan werden Schlüsselereignisse nicht nur in den meisten Songtexten von Eugene Hütz erzählt und immer neu formuliert, sondern auch in Interviews, Artikeln, Rezensionen oder Filmen wieder aufgegriffen und erweitert. Und so wird der Name Hütz zum Inbegriff des illegalen Immigranten, der marginalisierten Minderheit, des Kampfes um Anerkennung von kultureller Differenz und des Triumphs der (Pop-)Musik über soziale Abgrenzungsmechanismen.
Über die Musik hinaus
Wieso finden Geschichten wie diese augenblicklich so viel Nachhall in der Popmusik? Ein erster Grund scheinen die Themen selber zu sein, die man mit dem etwas breiten Begriff „Globalisierung“ zusammenfassen kann. Ob durch Medienberichte, Internetkampagnen oder direkte Begegnungen im Alltag, immer mehr Menschen im Westen setzen sich mit der Situation von Flüchtlingen und Immigranten oder mit den besonderen Erfahrungen von kulturellen und ethnischen Minderheiten in unserer Gesellschaft auseinander. Diese Aspekte der Globalisierung, die oft als problematisch und sogar polarisierend dargestellt und wahrgenommen werden, gewinnen durch Popmusiker wie K’naan und Eugene Hütz ein menschliches Gesicht. Die Musikfans beschäftigen sich nicht mit einem abstrakten Problem, sondern mit einer individuellen Lebensgeschichte, die sich auf allgemeine westliche demokratische Werte wie freiheitliche Grundrechte, Gleichheit und Pluralismus bezieht. Ähnlich wie bei der Migrationsliteratur weckt die Erzählung von persönlichen Erlebnissen, Emotionen und Hoffnungen in den Zuhörern Empathie – mit dem Bonus des sinnlichen Musikgenusses.
Doch zeigt sich hier auch eine der zentralen Paradoxien von Migrationsmusik: Ihre Anhänger sind hauptsächlich in der gebildeten und mobilen Mittelklasse westlicher Gesellschaften zu finden, die von der globalen Wirtschaft profitiert haben – Ralf Dahrendorf bezeichnet sie als die „globale Klasse“. Diese Musikkonsumenten haben die Not und Härte, die die Einwanderung mit sich bringt, nicht selbst erlebt und die soziale wie kulturelle Marginalisierung nicht erlitten. Aber sie sind sich dieser Problematik bewusst und wissen um die soziale Sprengkraft, die sie in sich birgt.
Kulturelle Auseinandersetzungen, Fundamentalismus, Gewalt und Exklusion werden in den Liedern der meisten erfolgreichen Migrationsmusikern thematisiert, und zwar als große Herausforderung, die sie überwinden müssen (und eines Tages auch werden) – gewöhnlich durch das Musizieren selbst. Die beliebtesten unter den Migrationsmusikern erzählen jedoch eine Version, die in vieler Hinsicht eine idealisierten Erfolgsgeschichte (in einer globalisierten Welt) ist. Die Fans unter der „globalen Klasse“ mag es beruhigen, dass in der übergreifenden Erzählung letztlich die positive, inklusive und pluralistische Seite der Globalisierung die Oberhand gewinnt.
Ein zweiter Grund für die aktuelle Attraktivität von Migrationsmusikern liegt in der Popmusik selbst, als einzigartiges Erzähl-Medium: Sie kann Erzählungen transmedial, also über mehrere Medien hinweg, vermitteln und performativ verstärken. Popstars sind vielfältige Persönlichkeiten, die sowohl auf der Bühne und in Musikvideos agieren, sich in Songtexten und Musikalben präsentieren, als auch im Alltag als professionelle Künstler und Handlungsträger auftreten. Somit wird das Narrativ, das die Fans durch Songs und Musikvideos aufnehmen, weit über die Grenzen einer bloß musikalisch ‚erzählten‘ Geschichte getragen. Bei jedem Interview mit den Künstlern und bei jeder weiteren Rolle, die sie einnehmen, sei es als Autor, Schauspieler, Regisseur, Designer oder Aktivist, folgen die Fans stets derselben Figur, die sich immer weiter entfaltet und damit dem eigenen Narrativ immer neue Möglichkeiten eröffnet.
Auch wenn dies für Fans vermutlich kaum eine Rolle spielt, sollte man nicht vergessen, dass Popmusik ein millionenschweres Geschäft ist, an dem viele Akteure beteiligt sind – von Agenten und Produzenten bis hin zu Plattenfirmen und Marketingunternehmen –, deren finanzielle Interessen den Erfolg von Migrationsmusikern pushen. Dies sei nur angedeutet, denn das Hauptaugenmerk meiner literaturwissenschaftlichen Forschung liegt darauf, wie Migrationsmusiker und ihre strategischen Berater die fast unüberschaubare transmediale Plattform der Popmusik sehr produktiv nutzen, um die eigene autobiographische Erzählung zu erweitern. Wenn K’naan Spenden für Kinder in Somalia sammelt, können die Fans dies mit seinen toten Freunden assoziieren, die in vielen Songs und Interviews erwähnt werden. Solche Inszenierungen werden wiederum aufgenommen, diskutiert und weitergetragen in den vielen Internetforen, die von sozialen Plattformen wie YouTube oder Facebook ständig gespeist werden. Der somalische Flüchtling K’naan und der illegale Immigrant mit Roma-Wurzeln Hütz ,funktionieren‘ sogar entkoppelt von der eigenen Musik, weil sie für viel mehr stehen als ‚bloßen‘ Pop.
Und trotzdem ist letztlich auch Migrationsmusik im Kern ein Lobgesang der (westlichen) Popkultur an sich, deren soziale Hintergründe bekanntlich ebenfalls auf eine epochale Migrationsgeschichte, nämlich der (versklavten) Vorfahren der Afro-Amerikaner, zurückzuverfolgen sind. In den USA war Popkultur schon immer sehr stark von Migration einerseits und Transkulturalität andererseits geprägt. In einem ständigen Austausch, oft auch in Form kultureller Aneignung, haben afro-amerikanische, europäische Einwanderer und Hispanics ein kulturelles Produkt erschaffen, das auf der musikalischen Ebene eine multikulturelle Gesellschaft feiert. Popmusik und ihre Stars stehen für die Verwirklichung von Träumen, die Rechtfertigung von Identitäten und die Eröffnung neuer Welten. Die gegenwärtige Migrationsmusik greift also auf klassische Themen des Genres, neu ist aber der Fokus auf Erfahrungen, die den Interessen einer jüngeren, global denkenden und handelnden Generation entsprechen. Insofern wären K’naan und Hütz die passenden Helden einer transmedialen und transnationalen modernen Erzählung.
Prof. Dr. Ana Sobral ist Assistenzprofessorin für Global Literatures in English an der Universität Zürich. Im Wintersemester 2014/2015 forschte sie am Kulturwissenschaftlichen Kolleg über ihr Habilitationsprojekt „Performing Transculturality: Reflections of Globalization in Popular Music“.
Themen Thesen Texte
Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 4/2015.
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Inhalt
Die Stadt als Resonanzraum
Jan-Friedrich Missfelder
Migranten und Staatsgewalt
Daniel Thym
Migration und Popmusik
Die neuen Helden einer transnationalen Erzählung
Ana Sobral
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