Was ist Wahrheit?
Beratung von Opfern häuslicher Gewalt in Südafrika
Interview mit Melanie Brand
Sie haben Ihr Dissertationsprojekt „Die Wahrheit der Gewalt“ genannt. Geht es nicht vielmehr um Wahrheiten der Gewalt?
Brand Der Begriff Wahrheit ist in meinem Forschungsprojekt sehr zentral. Während wir in der Alltagssprache immer ‚die Wahrheit‘ im Singular gebrauchen, sprechen wir im Forschungskontext von Wahrheitsbehauptungen, die von der jeweiligen Perspektive abhängen: Wir fragen also, wessen Wahrheit dies ist, für wen oder in welchem Kontext. Die Wahrheit der Gewalt lässt sich vielschichtig deuten: Zum einen geht es darum, wie Gewalt subjektiv erfahren und dann Dritten gegenüber begreifbar gemacht wird. Zum anderen spielt in der Beratung der Opfer häuslicher Gewalt die Wahrheitsfindung auch eine sehr große Rolle.
Das rührt daher, dass in Südafrika noch immer ein großer Teil der Bevölkerung in Armut lebt und entsprechend viele Überlebensstrategien zu beobachten sind. Ins Frauenhaus zu gehen, um dort kostenlos Unterkunft, Nahrung und Kleidung zu bekommen, kann eine solche sein. Möglicherweise gibt eine Frau nur vor, häusliche Gewalt erfahren zu haben, da dies ein Aufnahmekriterium im Frauenhaus ist. Das bedeutet nicht, dass die Frau sich nicht in einer Notsituation befindet, nur vielleicht nicht in einer, die unter häusliche Gewalt fällt.
Was war der Grund, warum Sie Südafrika als Ort für Ihre Feldforschung wählten?
Brand Südafrika bietet spannende Perspektiven, weil dort so viele verschiedene Kontexte aufeinander treffen, alleine die Kolonialgeschichte und die postkolonialen Verbindungen zwischen Europa und Südafrika. Die EU hat als größter Geber im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit nach wie vor großen, monetär begründeten Einfluss. Darüber hinaus gibt es eine riesige Anzahl an verschiedenen NGOs sowie staatliche Organisationen mit Hilfsangeboten. Leider ist Südafrika auch deshalb ein idealer Forschungsort für mich, weil Gewalt dort ein großes Thema ist. Die Gesellschaft ist von Gewalt durchzogen, wie man es hier nicht kennt. Und insbesondere häusliche Gewalt gegen Frauen stellt ein schwerwiegendes Problem in allen Gesellschaftsschichten dar.
Welche Identitäten werden im Laufe eines Beratungsgespräches konstruiert?
Brand Wer in ein Frauenhaus kommt oder von der Polizei dorthin gebracht wird, hat sich selbst als Opfer von Gewalt bezeichnet oder wurde von anderen als solches identifiziert. Im Frauenhaus wird dann nochmals überprüft, ob diese Frau ‚wirklich‘ Opfer häuslicher Gewalt wurde. Der Domestic Violence Act gibt Opfern häuslicher Gewalt in Südafrika einen Anspruch auf Beratung. Die Opferidentität wird also auch juristisch konstruiert; aus ihr erwachsen verschiedene Rechte.
Sobald Frauen im Frauenhaus aufgenommen werden, sprechen die Beraterinnen – es sind übrigens ausschließlich weibliche Mitarbeiterinnen – von ‚Klientinnen‘: Hier spielt eine neo-liberale Perspektive mit hinein. Eine weitere Identitätskonstruktion klingt in dem Slogan „Turning victims into survivors“, also aus Opfern Überlebende machen, an, und zwar die der empowered woman. So genannte Empowerment-Maßnahmen wie life skills trainings, zum Beispiel Kurse zu Kommunikation oder Kindererziehung, gehen jedoch zunächst auch von den Unzulänglichkeiten einer Frau aus, dem Fehlen grundlegender Kompetenzen.
„[…] Die betroffenen Frauen sprechen selbst nicht von einem Täter sondern von ihrem „Partner“. Sie nehmen ihre Beziehung viel differenzierter wahr.“
Inwiefern spielt eine Täteridentität hinein in das Beratungsgespräch?
Brand Die Beraterinnen im Frauenhaus benutzen schon der Einfachheit halber die Gegensatzpaare ‚Opfer‘ und ‚Täter‘. Dagegen sprechen die betroffenen Frauen selbst nicht von einem Täter sondern von ihrem „Partner“. Sie nehmen ihre Beziehung viel differenzierter wahr; schließlich befinden oder befanden sie sich in einer Beziehung mit dem anderen und eine Trennung in ‚Täter‘ und ‚Opfer‘ fällt da oft schwer.
Sehr spannend war, dass ich Zugang zu einer Organisation gewonnen habe, die sich ausschließlich an Täter häuslicher Gewalt richtet. Gerichtlich verurteilte Täter erhalten hier als letzte Chance eine Resozialisierungsmaßnahme. Das Programm läuft zehn bis zwölf Wochen, jede Woche zwei Stunden. In der Gruppensitzung mit einem Sozialarbeiter oder einer Sozialarbeiterin wird über häusliche Gewalt und Gewalt allgemein gesprochen, aber der Begriff ,Täter‘ taucht nicht mehr auf. Letztlich geht es dort darum, den Männern Kommunikationstechniken und Strategien zur Aggressionsbewältigung an die Hand zu geben, um Krisensituationen auch ohne Gewalt meistern zu können. „Ihr seid nicht allein schuld“, wird dort den Männern gesagt, „ihr habt eine Teilschuld, aber ein Teil der Verantwortung liegt auch bei eurer Frau.“ Dann wird ihnen erklärt, dass sie als head of household, als Mann im Haus, sehr viel Verantwortung für die Beziehung und für das Wohlbefinden ihrer Frau haben; und dass sie sich deshalb Fähigkeiten der Kommunikation und Konfliktlösung aneignen müssen, um zu vermeiden, dass es ihrer Frau schlecht geht. Das fand ich sehr aufschlussreich, weil diese Rhetorik der Teilschuld im Frauenhaus nicht vorkam.
Wie stellen die beratenden Instanzen fest, dass das Opfer tatsächlich ein Opfer ist?
Brand In Frauenhäusern gibt es sehr viele Mechanismen der Dokumentation. Nach dem Aufnahmegespräch wird eine Akte erstellt, die alle relevanten Daten und Aussagen der Frau aufnimmt und über einen langen Zeitraum hinweg nachvollziehbar macht, ob ihre Geschichte noch stimmig ist. Wenn eine Frau beim ersten Gespräch nach ihren Gewalterfahrungen gefragt wird, geht es besonders darum, ob ihre Geschichte glaubwürdig und authentisch wirkt. Eine stimmige, authentische Geschichte ist ein wichtiges Merkmal von Wahrheit. Auch wie die Frau sich sonst im Frauenhaus verhält, wird aufgezeichnet. In einem der mir bekannten Häuser führen die housemothers, die sich um die praktischen Dinge des täglichen Zusammenlebens kümmern, zum Beispiel eine Art Tagebuch, in dem sie alle möglichen Vorfälle aufschreiben: Was ist letzte Woche passiert? Welche Frau hat was gemacht? Wer hat mit wem gestritten?
Wenn die Betroffene nichts dagegen hat, rufen die Beraterinnen auch bei Verwandten und Angehörigen an und versuchen herauszufinden, ob sich die verschiedenen Darstellungen decken. Gleichzeitig suchen sie natürlich nach alternativen Lösungen für die Frau, etwa, ob sie zu ihrer Familie zurückgehen könnte, und versuchen, etwaige Streitigkeiten in der Familie zu schlichten. Die Anrufe haben aber eindeutig auch den Zweck der Wahrheitsfindung.
„Die Beratungen versuchen massiv, Einfluss auf bestehende Geschlechterrollen und Verhaltensmuster zu nehmen.“
Inwiefern beeinflussen äußere Bedingungen dieses erste Gespräch?
Brand Die Situation ist von Anfang an durch eine starke Hierarchie gekennzeichnet. Die Beraterin ist Expertin und hat in dieser Konstellation sehr viel Macht, über die Zukunft der potentiellen Klientinnen zu entscheiden. Diese wiederum wissen, dass es darauf ankommt, die Beraterin zu überzeugen.
Die Aufnahmebögen unterscheiden sich zwar von Haus zu Haus, aber immer werden verschiedene traumatische Erlebnisse aufgegriffen und besprochen: „Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben Gewalt erfahren und von wem? Wurden Sie schon einmal vergewaltigt? Hatten Sie einen Schwangerschaftsabbruch?“ Der äußere Rahmen bestimmt sehr, wie die Frau sich selbst erzählt und sich möglicherweise auch selbst wahrnimmt.
Vielen der Frauen, die ich in den Frauenhäusern kennen gelernt habe, verlangt der Schritt, aus ihrem persönlichen Umfeld heraus in die Institution zu gehen, allein schon sehr viel Mut und Kraft ab. Für die Beraterinnen fängt da der Prozess aber erst an. Und sie wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau im Frauenhaus bleibt und nicht zum Partner zurückkehrt, sehr gering ist.
Welchen Einfluss haben in Südafrika bestehende Vorstellungen von Geschlechterrollen? Und versuchen die Beratungen, diese zu verändern?
Brand Die Beratungen versuchen massiv, Einfluss auf bestehende Geschlechterrollen und Verhaltensmuster zu nehmen. Die Frauenhäuser, die ich besuchte, hatten vorwiegend Klientinnen aus der schwarzen Bevölkerung, was damit zu tun hat, dass die Häuser in den Stadtvierteln Pretorias liegen, die eher von der schwarzen Bevölkerung bewohnt werden. Südafrika ist in dieser Hinsicht noch ziemlich segregiert. Oft begannen Frauen mit dem Satz: „You know, in our black culture...“ Und dann wurde mir erzählt, dass Frauen in der schwarzen Kultur oft einfach die schlechtere Position gegenüber dem Mann haben. Häusliche Gewalt gegen Frauen wird oft als ein exklusives Problem der ärmeren black community wahrgenommen, was natürlich nicht stimmt. In der christlichen afrikaansen Bevölkerung bieten zum Beispiel Kirchen Hilfe für Frauen in Notsituationen an, was aber auch bedeutet, dass Gewalt hier in der Öffentlichkeit weniger sichtbar wird.
Allgemein orientieren sich die Beratungsinstitutionen zumeist an europäischen Idealen, besonders der Frauenbewegung, und es geht häufig darum, dass die Frau sich emanzipiert, am besten berufstätig wird und ihr eigenes Geld verdient. Im südafrikanischen Kontext kann dies aber ziemlich problematisch sein: Oft haben mir Frauen erzählt, dass gerade ihre finanzielle Unabhängigkeit ihre Beziehung sehr belastete, weil sich der Mann als zuständig für das Einkommen sehe. Wenn Institutionen versuchen, Rollenmodelle aufzubrechen, ohne die Männer einzubeziehen, führt das oft zu heftigen Konflikten.
Das haben auch die Männer in dem Täter-Reintegrationsprogramm bestätigt. Ein Mann erzählte, dass seine Frau einen kleinen Friseurladen aufgemacht hatte. Während er seit kurzem arbeitslos war, verdiente sie und tätigte Einkäufe, ohne um Geld fragen zu müssen. Dies hat die Beziehungsdynamik komplett umgekehrt. Diese Problemlage wird von den Institutionen oft nicht aufgegriffen, weil sich diese entweder an die Frauen oder an die Männer richten. Der Berater der Reintegrationsgruppe erklärte mir auch, warum er nicht über Emanzipation spricht: In Einzelgesprächen mit den Tätern wurde ihm schnell klar, dass er diese sofort verlieren würde, wenn er Gleichberechtigung ins Spiel brächte. Daher arbeitet er lieber mit den bestehenden Strukturen, um diese Männer zumindest in Sachen Gewaltbereitschaft zum Umdenken zu bewegen.
Gibt es Schritte hin zu einer besseren Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen?
Brand Von den Beraterinnen und Sozialarbeiterinnen wird es als großes Problem empfunden, dass es wenig Kontakt zu den jeweils anderen Organisationen gibt. Zum Abschluss meiner Feldforschung habe ich in Pretoria einen Workshop organisiert, um allen, die in ihrer Arbeit mit häuslicher Gewalt zu tun haben, erste Ergebnisse meines Projekts vorzustellen. Den Auftakt bildete eine Grundsatzrede von EU-Botschafter Roeland van de Geer, der hervorhob, dass es sich bei häuslicher Gewalt nicht um ein ‚südafrikanisches Problem‘ handele, sondern Gewalt gegen Frauen auch in den EU-Mitgliedsstaaten ein großes Problem darstelle. Im Workshop ging es mir aber vor allem darum, den Beraterinnen und Beratern eine Plattform zu bieten, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Meine Forschung hat sehr von der vielen Zeit, die mir geschenkt wurde, und von der Bereitschaft, mir Dinge zu erklären und mir Einblicke in verschiedenste Arbeitsalltage zu ermöglichen, profitiert. Da wollte ich etwas zurückgeben.
Das Interview führte Claudia Marion Voigtmann.
Melanie Brand promoviert im Doktorandenkolleg „Europa in der globalisierten Welt“ zum Thema „Die Wahrheit der Gewalt. Häusliche Gewalt gegenüber Frauen und Identitätspolitik im Kontext von Beratungspraktiken in Südafrika“.
Themen Thesen Texte
Dieser Beitrag erschien zuerst im Clustermagazin „Themen Thesen Texte“ 4/2015.
Das Heft erhalten Sie kostenlos bei claudia.voigtmann[at]uni-konstanz.de (solange der Vorrat reicht) oder als
Inhalt
Die Stadt als Resonanzraum
Jan-Friedrich Missfelder
Migranten und Staatsgewalt
Daniel Thym
Migration und Popmusik
Die neuen Helden einer transnationalen Erzählung
Ana Sobral
Warum schlug die Fahndung nach den NSU-Mördern fehl:
Struktureller Rassismus oder normales Organisationsversagen?
Wolfgang Seibel
Was ist Wahrheit?
Beratung von Opfern häuslicher Gewalt in Südafrika
Interview mit
Melanie Brand
Antike Monarchien aus einer neuen Perspektive
Nino Luraghi
Integration durch Bildung?
Das Modell des Sozialinvestitionsstaates auf dem Prüfstand
Marius R. Busemeyer
@000 Swatch-.beats
Die Suche nach einer einheitlichen Internetzeit
Isabell Otto
Lateinamerikanische Kulturtheorien
Kritische Perspektiven auf Kolonialismen und Globalisierung
Gudrun Rath und Isabel Exner
Figuren des Zwischenraums
Lateinamerikanische Angestellten-Literatur im 20. Jahrhundert
Jobst Welge
Was heißt Korruption?
Polizeiarbeit in Niger
Mirco Göpfert