Verfassungspatriotismus
Was ist das, was braucht das, was verlangt das?
Ein Veranstaltungsbericht von Philina Schmidt
Die Feierstunde anlässlich des 65. Jubiläums des Grundgesetzes im deutschen Bundestag, der Constitution Day, der alljährlich in Kasachstan gefeiert wird, oder ein Zitat aus dem Film Bridge of Spies – „We call it constitution [...]. It‘s all that makes us Americans“: All dies sind laut Volkmann Beispiele dafür, wie Verfassungen zu Symbolen inszeniert werden, um ein Zugehörigkeitsgefühl in der Bevölkerung zu erzeugen.
Einerseits könne sich Verfassungspatriotismus dabei an einen vorhandenen Patriotismus anlehnen, erklärt der Rechtswissenschaftler. Die Verfassung werde damit also an eine gemeinsame Kultur und Sprache, einen gemeinsamen Habitus und andere soziokulturelle Gemeinsamkeiten rückgebunden. Häufig beziehe sich Verfassungspatriotismus auch auf bestimmte geschichtliche Traditionen. „In Deutschland ist das die Geschichte der Abwendung vom Nationalsozialismus“, stellt Volkmann fest.
Andererseits reagiere das Konzept von Verfassungspatriotismus auch auf einen Bedarf an Gemeinsamkeit in der Gesellschaft. Nicht umsonst entwickelten der Politikwissenschaftler Dolf Sternberger und der Philosoph Jürgen Habermas den Begriff des Verfassungspatriotismus explizit vor dem Hintergrund liberaler, demokratischer Gesellschaftsordnungen. Diese Gesellschaften bauten ja gerade auf die Freiheit und Vielfalt ihrer Mitglieder und stünden deshalb vor der Herausforderung der gesellschaftlichen Zergliederung, meint Volkmann. Um dieses Integrationsproblem zu lösen, bleibe also wenig anderes übrig, als die Verfassung zur zentralen Gemeinsamkeit zu erheben. „Je mehr Menschen aus einem anderen kulturellen, ethnischen oder auch religiösen Hintergrund zu uns kommen, desto weniger kann ein Patriotismus auf eingewurzelte, traditionelle Gemeinsamkeiten bauen und desto schwerer wird es zu bestimmen, was diese überhaupt ausmachen. Deswegen führen alle Versuche, diese Gemeinsamkeiten zu definieren, doch in irgendeiner Weise auf die universalen Werte der Verfassung zurück“, führt Volkmann aus.
Aber nicht alle Verfassungen fördern die Entstehung von Verfassungspatriotismus in gleicher Weise. Einige Verfassungen werden als reine Rechtsdokumente verstanden, sind inhaltlich streng getrennt von der Moral, verändern sich im Laufe der Zeit kaum und bleiben weitestgehend im Zuständigkeitsbereich von Juristen. Die meisten Verfassungen fallen allerdings unter die Kategorie der dynamischen oder lebenden Verfassung. „Wenn wir Verfassung als dynamische Verfassung begreifen, dann lässt sie sich nicht mehr reduzieren auf einen fertigen Text mit einer vorbestimmten Bedeutung. Stattdessen ist die Verfassung das, was die Gerichte, die politischen Akteure, die Medien, eine politische Öffentlichkeit daraus macht“, folgert der Rechtswissenschaftler. In ethischen Verfassungen werde der Gesetzestext außerdem als Ausdruck gesellschaftlich anerkannter moralischer Grundsätze verstanden. „Richter entscheiden also darüber, wie ein moralisches Prinzip am besten zu interpretieren ist “, erläutert Volkmann.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sei ein Paradebeispiel für eine dynamische, ethische Verfassung und werde heute noch als Hauptanwendungsfall eines Verfassungspatriotismus gesehen. In zwei wichtigen Urteilen – dem KPD-Parteiverbot und dem Lüth-Urteil – hat das Bundesverfassungsgericht in den 1950er Jahren das Grundgesetz als Wertordnung definiert. Damit rückt die Verfassung in die Mitte der deutschen Gesellschaft und steht symbolisch für deren moralische Grundprinzipien.
Was bedeutet es nun für Bürgerinnen und Bürger, wenn das deutsche Grundgesetz als Wertordnung verstanden wird? „Werte sind nicht einfach da, sie wollen auch innerlich angenommen sein“, sagt Volkmann dazu. Im Wertebegriff selbst stecke daher bereits ein Zwang, sich zu diesen zu bekennen. Diese Sicht auf das Grundgesetz sei beispielsweise deutlich geworden, als Sigmar Gabriel arabische Übersetzungen des Grundgesetzes an Flüchtlinge verteilte und dabei betonte: „Wer zu uns kommt, muss Spielregeln kennen.“ Dahinter stecke die Idee, Verfassungsinhalte in Form eines Werteunterrichts zu vermitteln und auch Sympathien für diese Werte zu wecken. Auch am Beispiel der Einbürgerung werde der Anspruch, sich zu den Werten der Verfassung zu bekennen, relevant. Zwar wird in Deutschland, anders als zum Beispiel in den USA, dabei weder ein Eid auf die Verfassung verlangt noch eine festliche Zeremonie abgehalten. Trotzdem setzt der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft voraus, dass man die freiheitliche demokratische Grundordnung des Grundgesetzes offiziell anerkennt, indem man ein Bekenntnis dazu vorliest.
Die aktuellere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeige aber, dass eine liberalere Deutung des Grundgesetzes auf dem Vormarsch ist. Volkmann verweist auf ein Urteil zu NPD-Demonstrationen von 2001, in dem es heißt: „Die Bürger sind rechtlich nicht gehalten, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen (…) Die Bürger sind daher frei, auch grundlegende Wertungen der Verfassung infrage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden.“ Laut Volkmann wird in diesem Satz das Verfassungsverständnis als Wertordnung wieder aufgelöst. „Denn“, so sagt er, „einen Wert, dem es gleichgültig ist, ob man ihn teilt oder nicht, gibt es nicht.“ Was sei ein Bekenntnis zum Grundgesetz denn noch wert, wenn die Verfassung selbst dem Bürger ausdrücklich das Recht einräumt, dessen Prinzipien abzulehnen? Volkmann schließt seinen Vortrag mit einer Frage, für die er gleich selbst eine Antwort anbietet: „Was können eigentlich Verfassungen selbst dazu beitragen, dass sie Gegenstand eines Verfassungspatriotismus werden? – Aus sich selbst heraus sehr wenig. Und die Diskussion, die wir heute führen, zeigt eben auch, dass wir gerade an solche Grenzen stoßen.“
In der anschließenden Diskussion wurden die Denkanstöße von Uwe Volkmann im Publikum weitergedacht und neben vielen juristischen Anmerkungen auch einige demokratiepraktische Fragen diskutiert: Sollte nicht jeder achte Richter am Bundesverfassungsgericht Moralphilosoph sein? Denn Juristen seien doch gar nicht dazu ausgebildet, über moralisch-ethische Fragen zu entscheiden. Wie kann man die komplexen Inhalte des Grundgesetzes im Schulunterricht überhaupt vermitteln? Und sollte man nicht lieber den gesellschaftlichen Streit als gemeinsame politische Kultur in Deutschland akzeptieren, statt zu versuchen, das Grundgesetz als universellen Konsens zu proklamieren?