A Identifikation und Identitätspolitik
Gegenüber dem ursprünglichen Titel „Identitätskulturen“ signalisierte die neue Überschrift „Identifikation und Identitätspolitik“ in der zweiten Projektphase insofern eine Akzentverschiebung, als sie nicht mehr von einer selbstverständlichen Orientierung an Identitätsmustern ausging, sondern das Augenmerk auf den unabgeschlossenen, oft improvisatorischen und kontroversen Charakter von aktiver und passiver Identifikation richtete. Damit kamen Aspekte der Performanz und der Wahl von Mitgliedschaft besser in den Blick. Durch eine stärkere Fokussierung auf die Selbstverortung, die soziale Vernetzung und das Zugehörigkeitsgefühl von individuellen Akteuren konnte die grundsätzliche Offenheit von Identitätsbildungsprozessen noch deutlicher herausgearbeitet werden.
Aktuelle sozialwissenschaftliche, historische und literarische Studien stimmen in der Beobachtung überein, dass personale bzw. kollektive Identität keineswegs einen konstanten Bezugspunkt sozialen Handelns darstellt. Aus zwei Gründen: Erstens finden sich jede Person und jede Gruppe in vielfältige, oft unzusammenhängende und sogar inkompatible Sozialbeziehungen eingebunden, die kein einheitliches und invariantes Identitätsprofil zulassen.
Um wechselnden Adressierungen gerecht zu werden – seien sie situativ oder rollentechnisch bedingt –, müssen soziale Akteure sich bis zu einem gewissen Grad inkohärent verhalten, zumeist auf spontane Weise und ohne sich dessen bewusst zu sein. Das ist ihnen in dem Maß möglich, in dem ihre Identität nicht starr, sondern fluide und versatil ist. Bei strategischer Ausnutzung entsprechender Spielräume durch kollektive Subjekte wird man dagegen von Identitätspolitik sprechen. Dieser Aspekt ist in der Forschungsdiskussion besonders im Hinblick auf das Thema der sozialen Bewegungen und der kollektiven Erinnerungskonstruktionen aktuell.
Zweitens ist ‚Identität’ nicht als ein quasi natürlicher Dauerzustand des Selbstbewusstseins sozialer Akteure anzusehen, sondern Effekt einer Dramatisierung von Differenz. Mit voller Schärfe stellen sich Identitätsfragen nur in kritischen Phasen des Übergangs oder des Konflikts; in ruhigeren Zeiten bleiben sie entweder latent oder können gänzlich irrelevant werden. ‚Identität’ ist auch aus diesem Grund, kontraintuitiv, eine situationsabhängige Kategorie. Sie tritt dort in den Vordergrund, wo Zugehörigkeiten unter den Druck von Polarisierungen geraten, die entsprechende Entscheidungs- bzw. Bekenntniszwänge auslösen.
‚Identität’ ist also keine solitäre Kategorie, sondern besteht – je nach Betrachtungsweise – aus einem Fächer partieller Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder Verschiedenheiten. Sie hängt in starkem Maß davon ab, worauf der Akzent der Identifikation gelegt wird. Dies öffnet sowohl subjektive als auch institutionelle Verhaltensspielräume. Sie werden dadurch noch verstärkt, dass in vielen Fällen parallel starke Semantiken der Gleichheit (aller Menschen, aller Gläubigen, aller Staatsbürger) und der Unterschiedenheit (von Männern und Frauen, Reichen und Armen usw.) bereit stehen, die je nach Situation anders gegeneinander abgewogen werden können.
Forschungsfragen
Die dem Forschungsfeld A zuzurechnenden Projekte sollten weniger am Resultat einer fertigen Identität als am Prozess veränderlicher Identifikationen interessiert sein. Dabei konnten sie sich vorrangig von folgenden Fragen anleiten lassen:
- In welchen sozialen Lagen wird ‚die Identitätskarte gespielt‘, schiebt sich die Frage nach einer eigenen Identität in den Vordergrund? Welche Akteure und Verfahren entscheiden über die Schaffung einer kollektiven Subjektposition? Wie werden Identifikationsvorlagen angeeignet und nutzbar gemacht, wie werden sie andererseits subversiv unterwandert?
- Worin liegt die für die Bestimmung von Identität maßgebliche Referenz (ökonomischer Status; politische Zugehörigkeit; formale und Partizipationsrechte; linguistische, ethnische, kulturelle oder religiöse Merkmale; Verbundenheit durch ein geteiltes kulturelles Gedächtnis oder durch Projektion einer geteilten Zukunft)? Wie werden diese Referenzen gegeneinander gewichtet? Worin liegen gegebenenfalls die Gründe für einen Wechsel der Referenz?
- Welche juridischen, administrativen, infrastrukturellen und medialen Faktoren sind an der Ausprägung kollektiver Identitäten beteiligt? In welchem Maß entstehen solche Identitäten als (oft verzögerte und nichtintendierte) Verwaltungseffekte, Blaupausen von politischen Grenzziehungen und den ihnen zugrundeliegenden Taxonomien (Konfession, Territorium, Nationalität, Ethnie usw.)? Welche verkehrs- und kommunikationstechnischen Voraussetzungen haben sie (Forschungen Murašov)?
- Wie durchlässig sind die Grenzen zwischen identitätsbasierten In- und Exklusionen? Wie werden Zugehörigkeitsgewinne und -verluste in den verschiedenen sozialen Operationsebenen gegeneinander verrechnet? Wie gestaltet sich kollektive Identität als „kultureller Kompromiss“ (A. Wimmer)?
- Welche Konzepte stehen zur Verfügung, um von einer starren Dichotomie zwischen dem Selben und dem Anderen, dem Eigenen und dem Fremden loszukommen? Wie lassen sich nicht-exklusive Begriffe wie ‚Ähnlichkeit’ oder ‚Gemeinsamkeit’ so fortentwickeln, dass sie zur Grundlage einer neuen Grammatik des Sozialen gemacht werden können?