Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

B Praktiken des Wissens und Nichtwissens

Gegenüber dem ursprünglichen Titel „Erzähltheorie als Kulturtheorie“ sollte das Forschungsinteresse auf diesem Feld einerseits erweitert, andererseits gebündelt werden.
Erweitert, insofern neben dem Erzählen auch zwei weitere für kulturelle Kommunikation basale Operationen, nämlich Zeigen und Aufführen, systematische Behandlung verdienen; gebündelt, insofern narrative, ikonische und performative Akte vorrangig daraufhin untersucht werden sollen, in welcher Weise sie gesellschaftliches Wissen und Nichtwissen formen.

Gesellschaften verfügen über elaborierte Instrumentarien, um stö­rendes, konsensge­fährdendes Wissen zu deaktivieren oder um bestimmte Wissensbestände der diskursiven Auseinandersetzung zu entziehen: durch Vermeidungskonventionen, Errichtung unhinterfragbarer Evidenzen, Tabus, Sakralisierung. Die soziale Bindekraft von Geheimnissen ist sowohl auf Seiten der Eingeweihten als auch der Ausgeschlossenen weit größer als diejenige von offen zirkulierendem Wissen; dementsprechend stabilisieren sich Herr­schaftsverhältnisse durch Wissensasymmetrien.

Demokratische Gesellschaften sind gleichermaßen durch die Forderung nach Transparenz wie durch bestimmte Rechte auf aktives und passives Nichtwissen geprägt, woraus zahlreiche Zielkonflikte entstehen. Neben soziostrukturellen und politischen Determinanten sind die historisch vor­findlichen medialen Bedingungen von großer Bedeutung. Schriftlose Kulturen können ihren Wissens­haushalt über die Begrenztheit des menschlichen Gedächtnisses regeln. Sobald Schrift verfügbar und Drucktechnik in Gebrauch ist, sammelt sich umfängliches Wissen gewissermaßen automatisch an, das zu ignorieren dann anderer sozialer Mecha­nis­men und Praktiken bedarf. Für die Wissensgesellschaft des Internetzeitalters scheint die Unaus­löschlichkeit individueller Spuren im Netz zu einem ernsten sozialen und recht­­lichen Problem zu werden.

Mit der Frage nach den normativen Be­gründungen von Nichtwissen (aktuelle Beispiele: das Recht auf informatio­nel­le Selbstbestimmung, das Folterverbot bei der Strafverfolgung, das Steuergeheimnis, das Arkanum der Regie­rungs­tätigkeit) öffnet sich das Thema auch für rechts- und politik­wissen­schaftliche Fragestel­lungen. Andererseits ist nach funktionellen Begründungen für ein so verbreitetes Phänomen wie die Wissensvermeidung zu suchen. Einen Hinweis liefert die wichtige Rolle von Unbestimmtheit in politischen Ent­scheidungs- und Verteilungs­prozessen.

Generell ist geteiltes Nichtwissen also ein wichtiges Organ der Integration/Desintegration von Gesellschaften und verdient systematische Aufmerksamkeit. Bei der Regulierung von Abtreibung, Sterbehilfe, Todesstrafe, Embryonen­forschung, Prä­implan­tationsdiagnostik, sexuellen Praktiken u.a. werden dabei fundamentale Wertfragen berührt. Um die damit verbundene Gefahr aufflammender gesellschaftlicher Wertkonflikte kontrollierbar zu halten, wird häufig auf detaillierende Kenntnisnahme und Thematisierung verzichtet bzw. vor­han­de­nes Wissen negiert.

Forschungsfragen

In Forschungsfeld B wurden unter anderem folgende Themen und Forschungsfragen untersucht:

  • In welchen textuellen, bildlichen oder performativen Praktiken wird in einem gegebenen Untersuchungsszenario das Verhältnis zwischen manifestem und verborgenem Wissen, Aussprechen und Verschweigen austariert? Welche Mischformen (Takt, gespieltes Unwissen, Simulation/Dissimulation) werden von welchen Akteuren in welchen Situationen in Anspruch genommen? Welche Machtasymmetrien und welche Effekte kultureller In- bzw. Exklusion werden auf diese Weise erzeugt?
  • Wie wird Latenz kommuniziert? Wie funktionieren offene Geheimnisse?
  • Welcher Dramaturgie gehorchen Skandale? Haben sie gesellschaftlich bindende oder lösende Kraft?
  • Unter welchen Bedingungen üben kollektive ‚Verabredungen zum Nichtwissen‘ (Verdrängung, Amnestie, Verbot von Nachforschungen) eine konfliktschlichtende Wirkung aus? Wann führt die entgegengesetzte Strategie der Aufarbeitung (z.B. durch Wahrheitskommissionen) zum Ziel?
  • Welche wahrheitskonstitutive Funktion kommt emphatischen Formen des Nichtwissens (Glaube, Intuition, Enthusiasmus) zu?
  • Welche Rolle spielen Verfahren der ‚Einhegung‘ von Nichtwissen (Vertrauen, Wahrscheinlichkeit, Modellbildung, Risikokalkulation) in Hinsicht auf Prozesse kultureller Integration/Desintegration? Welche Funktion hat die Ausgrenzung von ‚veraltetem‘ und Pseudowissen, Anomalien und Irrtümern im Rahmen epistemischer Selbstverständigungsprozesse? Wie wird das Verhältnis zwischen Wissen und Glauben modelliert, und welche Rolle spielt dabei die Ausdifferenzierung von Religion (Forschungsfeld D)?
  • Wie wird Nichtwissen institutionell stabilisiert (Principal-Agent-Theorie u.a.)? Wie erklärt sich insbesondere die Lernunfähigkeit politischer Institutionen?
  • Wie gehen moderne Gesellschaften mit dem Paradox der Steigerung von Ungewissheit durch Wissenssteigerung um (Ulrich Becks These von der Nichtwissensgesellschaft)?
  • Wie wird durch neue Techniken (Internet, Gen-Diagnostik etc.) die Balance zwischen Wissen und Nichtwissen verschoben? Welche juristischen, moralischen und politischen Konsequenzen ergeben sich daraus?
  • Welche Auswirkungen hat die verschobene Balance zwischen Wissen und Nichtwissen auf Religionen und neue soziale Bewegungen?