Erzähltheorie als Kulturtheorie
Die Erzähltheorie besitzt ihren angestammten Platz in der Methodenlehre der Literaturwissenschaften. Doch schon die Klassiker der Erzähltheorie zogen Verbindungslinien zwischen der Analyse literarischer Texte und der Untersuchung allgemeiner kultureller Semantiken.
Eine ähnliche Brücke über die Fachgrenzen schlägt das Forschungsfeld „Erzähltheorie als Kulturtheorie“: Thema ist das Erzählen nicht nur in der Literatur, sondern auch in vielen anderen Wissensgebieten, in denen Narrative eine organisierende Rolle spielen.
Das Spektrum reicht von Philosophie und Geschichte über Politik-, Rechts- und Sozialwissenschaften bis hin zur Wissenschaftsgeschichte. Am Beispiel der Erzählung wird die Belastbarkeit literaturwissenschaftlicher Kategorien außerhalb ihres Herkunftsfeldes erprobt.
Erzählungen sind Schlüsselelemente kultureller Integration und zugleich Schauplätze für symbolische Kämpfe, in denen Kollektive sich über Ein- und Ausschlusskriterien verständigen, Zugehörigkeit und Feindschaft organisieren. Darüber hinaus erlauben sie eine Meta-Reflexion über den Umgang mit Grenzziehungen (offene vs. geschlossene Grenzen) überhaupt.
In einer Weltgesellschaft, die sich über Massenmedien beobachtet, spielen sie eine kaum zu überschätzende Rolle. Die Indizien mehren sich, dass politisches Handeln sich auch in der Gegenwart stärker an mythischen Konstruktionen als an rationalen Abwägungen orientiert – auch und gerade in westlichen Demokratien, wo die öffentliche Meinung ein erheblicher Machtfaktor ist.
Was zeichnet das Erzählen gegenüber anderen Formen der Sequenzialisierung und Schematisierung von Daten und Ereignissen aus?
Erzählungen erzeugen Evidenz und begünstigen so, dass Erzählstoffe Breitenwirkung erlangen und ins kulturelle Gedächtnis eingehen. Die Erzähloption der Fiktionalisierung erlaubt es, Probleme im Modus des „Gedankenexperiments“ und der Wunschphantasie durchzuarbeiten, wobei Fiktionen und Fakten sich wechselseitig beeinflussen und konstituieren. Darüber hinaus stiften Erzählungen Sinn, indem sie den Erzählstoff in Plot-Strukturen organisieren und so die affektive Teilhabe ermöglichen und soziale Energien mobilisieren. Und schließlich ermöglicht die Vieldeutigkeit von Erzählungen es, von unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen aus unterschiedliche, z.T. kontroverse Anschlüsse an die erzählte Welt herzustellen.