Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Kulturgeschichte des linksalternativen Milieus in der BRD zwischen Ende der sechziger bis Mitte der achtziger Jahre

Prof. Dr. Sven Reichardt

Abstract

Diese Forschungsarbeit „Authentizität und Gemeinschaft“ behandelt Lebensformen und Lebensstil im linksalternativen Milieu der Bundesrepublik Deutschland zwischen dem Ende der sechziger und der Mitte der achtziger Jahre. Ziel der Studie ist es, Ausbildung und Gestalt dieses bundesrepublikanischen Milieus in kulturwissenschaftlicher Perspektive mit Hilfe der Zentralbegriffe Authentizität und Gemeinschaft zu untersuchen.

Nach der Studentenbewegung von 1968 gliederte sich die politische Linke im Wesentlichen in dogmatische Theoriemarxisten und kommunistische Splitterparteien, Gewerkschafts- und SPD-nahe Gruppen, die terroristische Szene und ein eng mit den Neuen Sozialen Bewegungen (vor allem Umwelt-, Frauen-, Anti-AKW- und Friedensbewegung) verbundenes undogmatisches und nicht parteilich gebundenes, linkalternatives Milieu. Diese aus netzwerkartig aufgebauten Initiativen und Projekten bestehende Milieu hatte nach repräsentativen Berechnungen der Meinungsforschung am Ende der siebziger Jahre rund eine halbe Million Aktivisten und etwa fünfeinhalb Millionen Sympathisanten.
Nicht nur der Umfang und die große Akzeptanz linksalternativer Einstellungen und Lebensweisen, sondern auch die nachhaltigen Wirkungen verdeutlichen die Relevanz dieses Themas. Einige ihrer Bürgerinitiativen und selbstverwalteten Projekte existieren noch heute, in den kleinen und überschaubaren Selbstorganisationen und zivilgesellschaftlichen Organisationsformen entwickelten sich nachhaltig basisdemokratische Politik- und Verkehrsformen. Alltägliche Umgangsformen lockerten sich durch diese Anstöße auf und verstärkten den postmateriell-kulturellen Anspruch auf Selbstverwirklichung. Das linksalternative Milieu thematisierte Sexualität und Geschlechterverhältnisse als politisch-öffentliche Angelegenheiten, verstärkte das ökologische Bewusstsein und trug zum Abbau von Hierarchien sowie zur Aufwertung von Teamarbeit, flexiblen Tätigkeitsformen und autonomem Selbst-Management bei.

Die Studie fragt nun danach, was diese linksalternativen Gruppen zu einem gemeinsamen, homogenen Milieu machte und wie dieses konstituiert war. Ausgangspunkt um diese Fragen zu beantworten, ist die Beobachtung der Ähnlichkeit der Milieuakteure in ihren subjektiven Selbstbeschreibungen und ihrem praktischen Lebenswandel und -stil. Die Akteure erkannten sich wechselseitig an ihren habituellen Verhaltensweisen als Milieumitglieder. Ziel der Studie ist es, diese Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsweisen im linksalternativen Milieu im Hinblick auf das von ihnen aufgestellte Authentizitätsideal und ihr subjektivistisches Politikverständnis freizulegen.

„Betroffenheit“ und eine „Politik in der ersten Person“, wie es etwa in der Frauenbewegung hieß, bezeichneten einen aktiven Prozess der Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung, der auch die intimen Bereiche des Lebens politisieren sollte. Vergemeinschaftung sollte dem Imperativ solidarischer und basisdemokratischer Verkehrsformen folgen, wobei Gefühl, Intuition, Emotion einerseits, Provokation und Humor andererseits Selbstbild und öffentliche Kommunikation bestimmten. In Absetzung vom Dogmatismus der K-Gruppen und dem Putschismus der RAF vermischte sich die Spontaneität und „neue Unmittelbarkeit“ mit Vorstellungen vom ganzheitlichen und naturverbundenen Leben. Gerade in einer individualisierten Gesellschaft aus freigesetzten und autonomen Individuen bot das Milieu mit seinen Selbsterfahrungsformen und Selbstverwirklichungsgruppen die Möglichkeit über sich selbst nachzudenken und sich seiner kreativ gewählten Identität zu versichern. Eine ganze Infrastruktur von Institutionen und Medien (Projektarbeiten, politische Treffen, Wohngemeinschaften und Kleidungsstile, linke Kneipen und Kulturinstitutionen, Zeitungen und Bücher) sicherte die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und Identitätsfindung ab. Hier gab man seine politischen Bekenntnisse ab, entwickelte Verhaltens- und Redeweisen bis hin zur Körperhaltung und studierte seinen linken Habitus ein. Der Authentizitätsverweis fungierte im linksalternativen Spektrum als Identitätsmarker und Selbstführungstechnik der Subjekte. Etwas als authentisch zu bezeichnen und von sich zu behaupten, man verhalte sich authentisch, wies die im Milieu gültigen und legitimen Verhaltensmuster aus. Diese Selbstführung wird als gouvernementale Regierungstechnik und Selbstkontrolle im Sinne Foucaults gedacht. Man hatte also nicht nur das Recht selbstverwirklicht leben, sondern geradezu die Pflicht, über sich Rechenschaft abzulegen und die Selbsterkenntnisse anderen mitzuteilen. Zum Bekenntnis für ein alternatives Leben gehörte das Geständnis vermeintlich persönlicher Mängel und die Enthüllung derselben. Die frei gewählte Selbstthematisierungskultur bedeutete keineswegs nur Freiheit, sondern auch den Zwang der Selbstverpflichtung – gegenüber sich selbst und den anderen.
Dieser habituell eingeprägten Selbsttechnik war ein spezifisch linksalternativer Lebensstil zugeordnet, der sich im bestimmten Kommunikationsformen, Verhaltensweisen, Kleidungsstilen und sozialen Organisationsformen repräsentierte.

Diesem Repertoire milieubildender Praktiken wird sich die Studie in sieben Kapiteln, jeweils im Zusammenhang mit allgemeinen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, zuwenden. Im zweiten Kapitel wird die Theoriedebatte in den siebziger Jahren und das subjektbezogene Politikverständnis in der Sponti-Bewegung, der Frauen-, Ökologie-, Hausbesetzer- und Friedensbewegung erörtert.

Das darauf folgende dritte Kapitel behandelt die alternative Presse und die hier betriebene imaginäre Gemeinschaftsstiftung, welche sich im Zeichen vermeintlich authentischer Betroffenenberichterstattung vollzog.

Das vierte Kapitel behandelt Idee und Praxis alternativen Wohnens und Lebens in drei großen Unterkapiteln zu den (a) Mitte der siebziger Jahre rund 60.000 städtischen Wohngemeinschaften, (b) den wenigen hundert Landkommunen und (c) den rund 500 besetzten Häusern und der Hausbesetzerbewegung zum Anfang der achtziger Jahre. Dabei wird jeweils nach Umfang und Sozialprofil, unterschiedlichen Typen innerhalb dieser drei Wohnformen, nach Zusammenschlüssen und Koordinationsformen, nach Gemeinschaftsbildungen und Organisationen des Alltagslebens gefragt.

Das fünfte Kapitel behandelt Arbeitsstrukturen und Vergemeinschaftungsräume der Alternativökonomie des „Projekts“, die sich Mitte der siebziger Jahre entfaltete und im Jahr 1980 rund 15.000 selbstverwaltete Betriebe umfasste. Branchenstruktur, Sozialprofil und Motivation der hier Beschäftigten, Probleme mit der Finanzierung und Rentabilität, Zusammenschlüsse in Organisationen wie dem „Netzwerk Selbsthilfe“ sowie die oft beklagte Selbstausbeutung sind Teil dieses Kapitels. Im sechsten Kapitel stehen die körperliche Hexis, vom äußeren Erscheinungsbild in Kleidung und Körperpflege über Gesundheit und Ernährung bis zum Drogenkonsum, im Zentrum der Betrachtung. Hier soll es um das Verhältnis von Expressivität, Selbsterfahrung und politischer Haltung gehen, die am Fallbeispiel der oft mit körperlicher Expression verbundenen Selbsterfahrungsgruppen eingehender untersucht werden.

Das siebte Kapitel rückt die eng mit Körperkonstruktionen verbundenen Geschlechterverhältnisse bis zu den als „Beziehungskisten“ bezeichneten Partnerverhältnissen und entsprechenden Sexualitätsvorstellungen in das Zentrum der Betrachtung.

Das achte und letzte Kapitel behandelt die mit der Kinderladenbewegung eingeläutete antiautoritäre Erziehung. Diese soll als politisches Kampf- und Heilmittel in ihrer Konzeptionalisierung untersucht werden und dann mit der Umsetzung in den unterschiedlichen Kinderläden verknüpft werden.

Publikationen

Cover

Sven Reichardt: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Berlin: Suhrkamp 2014.

Sven Reichardt: Is „Warmth“ a Mode of Social Behaviour? Considerations on a Cultural History of the Left-Alternative Milieu from the Late 1960s to the Mid 1980s. In: Behemoth. A Journal on Civilisation, 3, 2 (2010). Volltext