Zu Nach- und Nebenwirkungen fragen Sie bitte Ihren Demagogen oder Warlord!
Das Erbe der globalen Zäsur von 1989 in der geopolitischen Peripherie Afghanistan und Kosovo
von Inken Wiese, Martin Zapfe und Florian Roth
Dass Afghanistan ein stolzes Land mit stolzen Menschen ist, wird in den Medien regelmäßig betont. Aus deutscher Perspektive überrascht es trotzdem, wenn Afghanen sich dafür rühmen, dass die Mauer ohne afghanisches Zutun 1989 wohl nicht gefallen wäre. In Afghanistan ist es überdies eine weit verbreitete Überzeugung, dass der Abzug der Roten Armee im Februar 1989 der entscheidende Dominostein war, der die Sowjetunion zu Fall brachte.
Die sowjetische Invasion in Afghanistan und die Katastrophe nach ihrem Rückzug
Nach offizieller Sicht der damaligen Sowjetunion sollte deren Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 das durch innere Kämpfe bedrohte Kabuler Regime stützen. Der eigentliche Grund lag aber in der Sorge, mit der die Sowjetunion die Loyalität und Stabilität eben dieses Regimes betrachtete. Hinzu kam der amerikanische Einfluss in einer Region, die als strategisches Glacis der Sowjetunion aufgefasst wurde. Unter dem Banner eines Kampfes gegen religiöse Autokratie und feudale Ausbeutung sollte das Land nach kommunistischen Prinzipien umgestaltet werden. Dabei trafen die sowjetischen und afghanischen Reformer jedoch bald auf einen unüberwindbaren urban-ruralen Gegensatz und auf über Jahrhunderte gefestigte Strukturen.
Durch den Quasi-Kriegseintritt der USA kam es zu einem Stellvertreterkrieg der Supermächte, eine Umkehrung der Verhältnisse in Vietnam. Die Zähigkeit des afghanischen Widerstandes und die selbst in einem totalitären Staat schwer zu vermittelnden sowjetischen Verluste stellten den reformorientierten Generalsekretär Gorbatschow vor schwierige Entscheidungen. Der erneuerte Rüstungswettlauf mit den USA unter Reagan führte die russische Wirtschaft zudem an den Rand ihrer Belastbarkeit. Der Rückzugsbeschluss 1988 war also nur konsequent und lange vorherzusehen. Die Invasion von 1979 folgte ebenso einer Strategie der Härte, wie sie die Sowjetunion 1953 in Berlin, 1956 in Budapest und 1968 in Prag angewandt hatte, jedoch unterschätze die sowjetische Führung den Widerstand der Afghanen. Damit erlosch zwangsläufig auch die Wirkungskraft der Breschnew-Doktrin, es folgte die „Sinatra-Doktrin“: Jedes Land solle seinen Weg gehen.
Mit dem Wegfall des mächtigen Überbaus der kommunistischen Ideologie wurden nun die Zentrifugalkräfte im Vielvölkerstaat Sowjetunion selber deutlich. Nationale und religiöse Konflikte gewannen wieder an eigener Dynamik, wurden zu Konfliktgeneratoren. Die Niederlage des kommunistischen Geistes mag im Nachhinein wichtiger gewesen sein als die tatsächlichen materiellen und personellen Verluste der Roten Armee. Die Sowjetunion zerfiel sicher nicht wegen Afghanistan, aber der Krieg dort ließ andere, größere und tiefer verwurzelte Faktoren zu Tage treten.
Für Afghanistan stellte der Abzug der über 100 000 sowjetischen Soldaten bekanntlich nicht den Beginn einer besseren Ära, sondern vielmehr den Übergang in eine neue Katastrophe dar. Bereits Mitte der 80er Jahre hatte sich der Krieg zu einem innerstaatlichen Konflikt entwickelt, in dem das Land in unzählige Kriegsfürstentümer zerfiel und die Allianzen zwischen den Kriegsparteien permanent wechselten. Aus Mudschahedin-Führern wurden Warlords, die Afghanistan in einen blutigen Bürgerkrieg stürzten. Der afghanisch-sowjetische Krieg hat die sozio-politischen Strukturen jedoch weit über das Phänomen der Warlords hinaus geprägt. Zunächst traten im Kampf gegen „den sowjetischen Besatzer“ gesellschaftliche Unterschiede zwischen Stadt- und Landbewohnern sowie zwischen den verschiedenen Ethnien in den Hintergrund.
Machtverschiebung von Stammesfürsten zu religiösen Würdenträgern
Die Konfrontation mit einem gemeinsamen Feind konnte aber die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen nur temporär überdecken, die der Krieg beschleunigte. Die sowjetische Politik der verbrannten Erde hatte in Afghanistan den größten Massenexodus seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst: Jeder zweite Afghane war auf der Flucht. Mit zunehmender Dauer dieses Flüchtlingsdaseins waren jedoch die Stammesstrukturen einer tiefgreifenden Erosion ausgesetzt. Durch die Schwächung tribaler Organisationsformen gewannen die islamistischen Widerstandsparteien und ihre militanten Vorstellungen vom Islam an Einfluss. So fand eine Machtverschiebung von den Stammesfürsten hin zu religiösen Würdenträgern statt.
Außerdem konnte ein paschtunischer Flüchtling kaum noch dem traditionellen Idealbild eines autonomen Paschtunen entsprechen. Dieser Ansehensverlust wurde durch islamische Konzepte kompensiert. Denn ein Flüchtling handelte wie der Prophet, der die Flucht aus Mekka nach Medina vollzogen hatte. Nahm dieser Flüchtling nun den Dschihad um sein verlorenes Gebiet auf, wurde er zum Mudschahed und folgte damit dem Beispiel Mohammeds.
In der Flüchtlingssituation verstärkte sich zudem die gesellschaftliche Zurücksetzung der Frau. Der Kontrollverlust, den die Männer durch die Nichteinlösbarkeit paschtunischer Wert- und Normvorstellungen erlitten, wurde durch die Kontrolle über die Frau als das vielleicht einzig verbliebene kontrollierbare „Gut“ kompensiert. Der Afghanistan-Experte Conrad Schetter sieht den kulturellen Wandel, der sich in den afghanischen Flüchtlingslagern seit den 80er Jahren vollzog, durch ein „Ineinanderfließen von islamischen und paschtunischen Versatzstücken“ geprägt. Er redet daher von der Entstehung eines „Islam[s] paschtunischer Prägung“, dessen Einfluss bis heute nachwirke.
Das Jahr 1989 brachte neben Wahlen und Kapitalismus auch neue Ideologisierungen und Radikalisierungen mit sich.
Ebenfalls eine Folge oder Begleiterscheinung des sowjetisch-afghanischen Krieges ist das Phänomen der Wander-Mudschahedin. Als diese durch das Ende des Krieges ihre Aufgabe verloren hatten, zogen einige in ihre Heimatländer zurück. Der massive Zuwachs an islamistischen Anschlägen in Ländern wie Algerien und Ägypten Anfang bis Mitte der 90er Jahre hängt damit zusammen. Zahlreiche nicht-afghanische Mudschahedin wählten neue Einsatzgebiete, u.a. in Tschetschenien und Bosnien. Bis heute jedoch ist der Widerstand gegen die Sowjetunion und die damals entwickelten Strukturen des Dschihad eine zentrale Bezugsgröße des islamistisch-politischen Diskurses, auf den Muslime weltweit rekurrieren.
Wie das Beispiel Afghanistan zeigt, ist die Zäsur des Jahres 1989 also keineswegs so geradlinig wie es insbesondere die deutsche Geschichtsschreibung manchmal vermittelt. Der Niedergang der Sowjetunion brachte der Peripherie unserer geopolitischen Wahrnehmung nur selten eine Integration in die vermeintliche Siegerideologie des Westens. Neben Wahlen und Kapitalismus brachte das Jahr 1989 auch neue Ideologisierungen und Radikalisierungen mit sich. In Afghanistan führte dies, wie eben beschrieben, zum Bürgerkrieg und zur Herrschaft der Taliban. Doch auch inmitten Europas gab es keineswegs nur die eine, friedliche Revolution.
Der Widerstand der Kosovo-Albaner gegen Serbiens Nationalismus
In Jugoslawien schafften die Umbrüche von 1989 ein Klima der Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, das den Nährboden für Hetzer und Demagogen bildete. Im Juni 1989 hielt der frisch gewählte serbische Präsident Milošević anlässlich des 600. Jahrestages der Schlacht auf dem Amselfeld eine Rede an historischer Stelle. In seiner Rede versuchte er den Mythos vom Amselfeld für die Idee eines Großserbiens nutzbar zu machen – just in einer Zeit, in der sich der jugoslawische Sozialismus im Niedergang befand. Die Schlacht gegen das Osmanische Reich von 1389 sollte dem serbischen Bevölkerungsteil Jugoslawiens eine neue, serbisch-nationale Identität verleihen – auch wenn dafür die Geschichte selektiv interpretiert werden musste.
Der in Folge erstarkende Widerstand der ethnischen Albaner im Kosovo gegen die zunehmend nationalistische und diskriminierende Politik Serbiens verlief zunächst weitgehend friedlich. Unter der Führung des Intellektuellen Ibrahim Rugova leistete die kosovo-albanische Zivilgesellschaft gewaltfreien Widerstand gegen die serbische Regierung und baute Parallelinstitutionen auf. Dieser Weg des friedlichen Protests, der nicht zuletzt von den zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Osteuropa beeinflusst war, dauerte knapp sechs Jahre.
Dann mussten die Albaner im Kosovo erkennen, dass die Weltöffentlichkeit zwar im Zuge der Kriege in Slowenien, Kroatien und Bosnien ihr Augenmerk auf den Balkan gerichtet hatte. Der Kosovo war jedoch noch immer an der Peripherie der Weltpolitik und damit weitgehend unbeachtet geblieben. Im Dayton-Abkommen von 1995 war der virulente Kosovo-Konflikt ausgeklammert worden: im Westen war man froh über das Erreichte. Die Albaner im Kosovo fühlten sich aber von der Welt vergessen. Daraus folgten der schnelle Aufstieg der UÇK und die Eskalation des Konfliktes zwischen 1997 und 1999. Für die Dauer eines historischen Wimpernschlags rückte der Kosovo von der Peripherie ins Zentrum.
Heute, zehn Jahre nach dem Ende des Krieges, sieht sich der Kosovo – diesmal im Übrigen in seinem Schicksal vereint mit Serbien – wieder als Randfigur der internationalen Politik. Beide Länder müssen erkennen, dass die Integration in die Europäische Union nur deutlich langsamer und beschwerlicher zu haben ist als erhofft. Das Land ist inmitten einer schwierigen Suche nach Identität zwischen ethnischer Selbstbestimmung, staatlicher Unabhängigkeit und regionaler Integration.