Vorherrschende Moral und radikale Gegenentwürfe
Abstract
Die westliche Kultur ist geprägt durch ein spezifisches Moralverständnis, das die Grundlage für unser Zusammenleben und damit auch einen wesentlichen Maßstab für unsere rechtsstaatliche Verfassung bildet. Diese Moral soll dem Anspruch nach universelle Überzeugungskraft besitzen und kann daher im günstigen Falle eine Integrationskraft über nationale, ja sogar kulturelle Grenzen hinweg entfalten. Ihre verbindlichen Vorgaben stellen aber auch die stärkste Einschränkung in der Verfolgung von Interessen und außermoralischen Wertvorstellungen dar. Sofern sie nicht von allen akzeptiert wird, ist sie zudem verantwortlich für tiefe Gräben zu denjenigen, die konfligierende Moralvorstellungen verfechten – und damit auch dafür, dass der Einfluss der dominanten westlichen Kultur oft als „Übergriff“ empfundenen wird. Gegenüber andersartigen Moralvorstellungen und mit der vorherrschenden Moral unvereinbaren Zielen oder Projekten ist eine Toleranz schwer vorstellbar, sofern die Moral verbindliche Vorgaben für alle beinhaltet; Konflikte lassen sich in diesem Fall nicht einfach durch Toleranz gegenüber dem Anderssein befrieden. Dies unterscheidet die Moral signifikant von verhandelbaren Differenzen hinsichtlich des guten Leben, der politischen Ordnung oder des Rechts, sofern in diesen Fällen keine moralische Verbindlichkeit vorliegt.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum erstaunlich, dass radikale Gegner der dominanten Kultur immer auch, wenn nicht sogar vordringlich deren Moralvorstellungen attackieren. Nach den Vorstellungen radikaler Kritiker soll der vorherrschenden Moral entweder eine alternative Moral oder ein gänzlich anderes nicht-moralisches Wertesystem entgegengestellt werden. Als wichtigster und bis heute sehr einflussreicher Vertreter einer solchen Moralkritik ist aus der Tradition insbesondere Nietzsche zu nennen; daneben auch Stirner und (mit Abstrichen) Marx. Die inhaltlichen Kritikpunkte und die jeweils vertretenen Alternativen zur vorherrschenden Moral unterscheiden sich natürlich erheblich: Sie reichen von Sonderrechten ungewöhnlicher Individuen bis zur weitgehenden Ablehnung der Individualität, von radikalen Gleichheitsforderungen bis zu inegalitären Wertdifferenzierungen. Dennoch lässt sich als gemeinsames Merkmal radikaler Kritiken an der vorherrschenden Moral zumindest festhalten, dass letztere nur als ein Wertesystem unter vielen betrachtet wird, das sich eine Vorherrschaft anmaßt, während es alternative, als überlegen angesehene - moralische oder außermoralische - Wertvorstellungen gibt. Eine Abwertung der vorherrschenden Moral ist insbesondere für radikale politische Aktivisten attraktiv, insofern sie sich - oft mit Verweis auf eine von ihnen vertretene überlegene Moral oder ein anderes Wertesystem - als über unserer Moral stehend, also an ihre Beschränkungen nicht gebunden sehen können.
Mit radikalen Gegenentwürfen zur vorherrschenden Moral soll sich das anvisierte Arbeitsvorhaben beschäftigen. Im Rahmen des Forschungsprojekts wird es weniger darum gehen, eine direkte Auseinandersetzung mit solchen Kritiken und Gegenentwürfen zu führen. Eine Arbeitshypothese des Projektes lautet vielmehr, dass in dieser Hinsicht nicht viel zu gewinnen ist: Die vorherrschende Moral wie auch die radikalen Alternativen werden letztlich nur für diejenigen überzeugend sein, die grundlegende Einstellungen teilen. Argumente für und gegen fundamentale Alternativen setzen in letzter Instanz voraus, dass man auf einem gemeinsamen Standpunkt steht. Ein neutraler Standpunkt lässt sich aber nicht ausmachen. Vielmehr steht zu vermuten, dass unser Moralverständnis nicht nur faktisch kulturell geprägt, sondern auch hinsichtlich seiner Überzeugungskraft von kulturellen Voraussetzungen nicht gänzlich unabhängig ist. Anstelle einer direkten Auseinandersetzung sollen die radikalen Gegenentwürfe zur Moral von innen heraus, also aus der Perspektive unseres Moralverständnisses betrachtet werden: Es geht darum zu bestimmen, wo die nicht verhandelbaren Grenzen des für uns Akzeptablen und Tolerierbaren liegen, welche Abschwächungen oder Modifikationen der Moral wir also nicht hinnehmen würden.
Im Projekt wird demnach die These vertreten, dass Begründungen auch in der Moral an ein Ende kommen. Zugleich wird von der (zu prüfenden) Hypothese ausgegangen, dass dieser Endpunkt mit unserem nicht verhandelbaren - inhaltlichen wie konstitutiven - Verständnis von Moral weitgehend zusammenfällt. Die Betrachtung radikaler Gegenentwürfe soll insbesondere helfen, die für unsere Moralauffassung einschlägigen Merkmale zu identifizieren.