Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts

Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel

Abstract

Versucht man, die Entwicklung der jüngsten Zeit systematisch in der Konzeption einer Nationalgeschichte zur Geltung zu bringen, welche das 20. Jahrhundert sowohl als eine Zeit der Eskalation des Nationalismus als auch von dessen Überwindung behandelt, dann bilden die Ansätze einer transnationalen Geschichtsinterpretation, der Transkulturalität und des Kultur- und Ideentransfers den Rahmen.

Ich arbeite mit einem Konzept, das für Zeiträume von jeweils mehreren Jahrzehnten handlungsleitende Sinnsysteme postuliert, die in den mittel- und westeuropäischen Industriegesellschaften sowie im europäisch-atlantischen Zusammenhang diskursprägend wirkten. Ich spreche von Zeitschichten, die sich erheblich überlagern können und doch ein klar von einander abgrenzbares Profil aufweisen. Die Zeitschichten beschreiben ein Panorama, welches die europäische Gesamtsituation im Umriss sichtbar werden läßt. Vor diesem Panorama wird dann die deutsche Entwicklung analysiert. Es handelt sich um drei Zeitschichten, die relational zu meiner Leitfrage nach der „liberalen Chance“ der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert konzipiert sind. Im west- und mitteleuropäischen Zusammenhang erfasst diese Leitfrage den spannungsreichen Bezug zwischen Liberalismus und Moderne seit der Hochindustrialisierung bis in die Periode der digitalen Revolution an der Wende zum 21. Jahrhundert.

Die erste Zeitschicht bildet die Jahrzehnte von etwa 1890 bis in die 1930er Jahre ab. Ausläufer reichen bis zum Ende der 1950er Jahre. Sie lässt sich in Anlehnung an Eric Hobsbawm als Krise jenes Liberalismus bezeichnen, der im bürgerlichen 19. Jahrhundert wurzelte. Auch wenn die Delegitimation des Liberalismus als dominierendes Sinnsystem erst mit dem Ersten Weltkrieg handlungsprägend wurde, hatte sie doch weit vor der Jahrhundertwende eingesetzt. Die Ambivalenzen des Fin de Siècle charakterisierten das deutschsprachige Mitteleuropa ebenso wie die französische und englische Gesellschaft. Die Krise des Liberalismus, die Hobsbawm 1918 zu dessen „Untergang“ eskalieren sieht, schloss nach dem Versailler Frieden in den besiegten Ländern zwar eine feindliche Abgrenzung von den westlichen Demokratien der siegreichen Ententemächte in sich und ließ den Gegensatz zwischen Faschismus/ Nationalsozialismus und westlicher Demokratie entstehen. Gleichwohl verlor die Orientierung an liberalen Ordnungsmustern auch in den westeuropäischen Ländern deutlich an Verbindlichkeit. Der Weltkrieg hatte die Wahrnehmung von Egalitarismus und Massengesellschaft zur transnationalen Erfahrung der kriegführenden Länder werden lassen. Das Phänomen „Masse“ wurde nicht nur zum Gegenstand konservativen Räsonnements, sondern beherrschte den politischen Diskurs der Zwischenkriegszeit von rechts bis links. Die Suche nach einem Ordnungssystem, das der Perzeption von Massengesellschaft entsprach, bewirkte den rasanten Bedeutungsschwund des Individualismus und damit einer zentralen Kategorie des liberalen Weltbilds.

Es ist deshalb nur auf den ersten Blick verblüffend, dass die zweite Zeitschicht, die von den 1930er bis in die 1960er/ 1970er Jahre reicht, in allen Industrieländern des europäisch-atlantischen Raums durch Ordnungsideen charakterisiert wurde, in denen der Individualismus nachrangig war. Wir kennen die prononciert anti-individualistischen Formen faschistischer und nationalsozialistischer Gemeinschaftsbildung, und wir kennen die teuflische Eigenart der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, die das exterminatorische Potential gegen „Gemeinschaftsfremde“ von Anbeginn in sich trug. Weniger Beachtung finden hingegen nicht-faschistische Formen einer Konstruktion von Gemeinschaft, und am wenigsten wurde die atlantische Dimension dieses sozialkulturellen Musters beachtet. Der New Deal brachte die Spielart einer zwar liberalen, zugleich aber nicht-individualistischen Gemeinschaftsbildung hervor, die als consensus bezeichnet wurde und eine neue Integration der von der Weltwirtschaftskrise erschütterten US-amerikanischen Gesellschaft erstrebte. Die amerikanische Form des alsbald so genannten consensus liberalism fasste beides in einer konstruktiven Weise zusammen: das liberale Sinnsystem der westlichen Demokratie mit den kardinalen Werten Freiheit, Recht und Fortschritt sowie das Erfordernis der Integration moderner Massengesellschaft. Vor dem Hintergrund dieses Modells wird die nationalsozialistische Volksgemeinschaft als brutale und destruktive Form der Gemeinschaftsbildung gerade auch dort sichtbar, wo sich die „Volksgenossen“ in ihr aufgehoben fühlten und von ihr profitierten.

Gemeinschaft als „Ordnung der Moderne“ in dieser zweiten Zeitschicht brachte den Typus des Sozialingenieurs und das social engineering hervor, deren Ziel es war, eine optimale gesellschaftliche Ordnung durch Kybernetik und Planung zu erreichen. Dies wurde zum Kennzeichen der Entwicklung von den USA über Skandinavien, Westeuropa und Deutschland bis in die Sowjetunion und umfasste die Zeit von den 1930ern bis in die 1960er Jahre. In Westeuropa war es der Marshall-Plan von 1947, mit dem die USA das Modell des consensus liberalism nach dem Sieg über den Nationalsozialismus zur Geltung brachten. Nach einer Inkubationszeit von etwa zehn Jahren beherrschte der keynesianisch grundierte Diskurs des liberalen Konsenses die westeuropäische und westdeutsche Entwicklung. Im Medium des Konsenses kam der Liberalismus nach (West)Deutschland zurück und machte die Transformation des nachfaschistischen Landes in eine westliche Demokratie möglich. Vor diesem Hintergrund lässt sich die kontrastive Entwicklung der DDR tiefenscharf ausleuchten.

Die dritte Zeitschicht ist von der Kritik und zeitweiligen offensiven Wendung gegen das Gemeinschaftsdenken gekennzeichnet. Schon um 1960 bekämpfte die damals entstehende Neue Linke zuerst in den USA, dann in Europa das „Diktat des Konsenses“. Doch erst das Ende des Nachkriegsbooms ließ die aus der Zwischenkriegszeit herrührende Spielart des Liberalismus historisch obsolet werden. Um 1980 kam der sogenannte Neoliberalismus zum Durchbruch, der – verzahnt mit der digitalen Revolution – seit etwa 1990 dem individuellen Interesse programmatisch den Vorrang einräumte vor konsensualem Interesse. Individuelles Interesse und gesellschaftliches Interesse wurden zu Gegensätzen erklärt. Die Ideologie des Neoliberalismus konnte zwar die Praxis eines gesellschaftspolitisch konsensualen Handelns in Westeuropa, insbesondere in Deutschland, nicht beseitigen. Die Kontrastierung zwischen der neuen, anti-konsensualen Ideologie einerseits und der Praxis in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft andererseits ermöglicht es, die Eigenart der Entwicklung insbesondere nach der deutschen Vereinigung 1990 präzise zu analysieren, anstatt sie bloß phänomenologisch zu beschreiben.