Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Ehe, Familie und Identität

Soziale Praktiken und wissenschaftliche Fiktionen

Prof. Dr. Gabriela Signori

Teilprojekt des Forschungsprojektes „Geschlecht, Namenwahl und Eheschließung

Abstract

Programmatisch haben Sozialökonomen wie Karl Bücher (1847-1930) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das Feld abgesteckt, in dem sich die nächsten hundert Jahre in Deutschland die Sozialgeschichte der mittelalterlichen Stadt bewegen sollte. In Reaktion auf die zeitgenössischen Problemlagen interessierten sie sich vor allem für Fragen der sozialen Ungleichheit (Arbeit, Lohn und die soziale Schichtung) und mithin für die „Frauenfrage“ (d.h. die zum sozialen Problem erklärte Erwerbstätigkeit von Frauen).

Eine Sozialgeschichte, die sich, der französischen oder angloamerikanischen vergleichbar, mit dem städtischen »Heiratsmarkt« (wer heiratet wen und wes­halb) als Mittel und Medium sozialer Integration befasst, vermochte sich hierzulande nicht zu etablieren. Und so beschränkt sich unser Wissen über das städtische Heiratsverhalten weitgehend auf den Be­reich der Normen (Kirchenrecht und Ehegüterrecht etc.) sowie auf das sich im 15. Jahrhundert multi­plizierende ehedidaktische Schrifttum.

Mit der Praxis, auch den vor­herrschenden Mehrfachehen, hat sich die deutschsprachige Mittelalterforschung (von Studien zu aus­gewählten Patrizierfamilien abgesehen) kaum befasst. Nationale Forschungstraditionen sind zwar ein wichtiger, aber nicht der einzige Grund, weshalb die deutsche Stadtgeschichtsforschung in Bezug auf die Eheschließung einen „Sonderweg“ beschritt.

Mindestens ebenso schwer lastet die Quellenlage. Im nordalpinen Raum besitzen wir weder mit dem Florentiner catasto von 1427 ver­gleich­­bar filigrane Steuerlisten, noch verfügen wir über derart viele und derart redselige Familienchroniken, wie sie aus den norditalienischen Stadtrepubliken er­halten sind. Wo sich, um Strukturen auf­zu­decken, die französische und anglo-amerikanische Forschung also auf Serien notariell beglaubigter Verträge oder die ebenso ergiebigen Akten des Monte delle doti (Florentiner Mitgiftkasse) stützen kann, müssen wir uns häufig mit wenigen Zetteln oder dem volatilen, weil auf Mündlichkeit basierenden Medium der Eheberedung bescheiden, das Produkt einer im Gegensatz zu den norditalienischen Stadtrepubliken noch vornehmlich als Präsenz­ge­sell­schaft zu definierenden Stadtkultur.

Von den Eheberedungen zeugen indirekt die so ge­­nannten Kundschaftsbücher (Zeugenverhörprotokolle), in denen das an der Beredung beteiligte Personal gebeten wird, das ehedem Besprochene zu rekonstruieren. Verschriftlicht wurden Ehe­bere­dungen demnach vornehmlich im Konfliktfall und erst im Nachhinein, nachdem einer der beiden Vertragsnehmer verstorben war (teilweise Jahrzehnte nach der Übereinkunft). Die dergestalt „kon­­servierten“ Beredungen haben den Vorzug, dass sie uns durch sämtliche Gruppen und Schichten der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft führen.

Sowohl aus dem Medium als auch aus dem Gegenstand der Beredung ergeben sich zahlreiche Fragen, denen ich in den nächsten Monaten nachgehen möchte. Zentral ist zunächst die Frage des Personals: Wer redet mit bei einer solchen Beredung? Und was erfahren wir über die Beweggründe der Vertragsnehmer? Wenn davon ausgegangen werden darf, dass das Konnubium in der Stadt zu den Grundlagen von Inte­gration zählt, wie präsentiert sich dieser Befund konkret in den Kundschaftsbüchern?

Eine herausragende Rolle im städtischen Heiratsmarkt spielt, wie eine erste Durchsicht des Materials gezeigt hat, die Nachbarschaft, also räumliche Nähe. Ihre Bedeutung lässt sich allerdings schlecht mit der weit verbreiteten Vorstellung vereinen, Ehen seien, auch in der mittelalterlichen Stadt, über­wiegend aus strategischen Gründen geschlossen worden. „Strategien“ verfolgt werden vor­nehmlich in den Oberschichten, prominent die zahlreichen „Überkreuz-Ehen“ (Mutter und Tochter oder Geschwister heiraten in dieselbe Familie ein). Die räumliche Nähe spielt auch hier eine zentrale Rolle, aber eine völlig andere als beim Mittelstand. Bei dessen Ehen hingegen scheinen „strategische“ Überlegungen keine derart dominante Rolle gespielt zu haben.

Hinsichtlich des Inhalts der Eheberedungen schließlich ist festzuhalten, dass diese zwar alleine von güter­rechtlichen Fragen handeln. Um Güter alleine ging es dabei jedoch selten. Mit den Gütern wurden immer auch soziale Positionen verhandelt.

Publikationen

Buchcover

Gabriela Signori und Karin Czaja (Hg.): Häuser, Namen, Identitäten. Beiträge zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, Konstanz: UVK, 2009. (Spätmittelalterstudien 1)

Cover

Christof Rolker und Gabriela Signori (Hg.): Konkurrierende Zugehörigkeit(en). Praktiken der Namengebung im europäischen Vergleich, Konstanz: UVK, 2011. (Spätmittelalterstudien 2)

Konkurrierende Zugehörigkeiten. Mittelalterliche Praktiken der Namengebung im europäischen Vergleich
Vortrag im Rahmen der Clustertagung, Juli 2010, Ittingen
Gabriela Signori, Christof Rolker, Karin Czaja, Lilach Assaf
Vortragstexte, Präsentation