Kulturelle Praktiken des Nichtwissens
Exemplarische Analysen aus soziologischer Perspektive
Abstract
Nachdem meine bisherigen Arbeiten zur Thematik des Nichtwissens sich vor allem auf den Umgang mit Nichtwissen in Wissenschaft, Technik und Politik konzentriert haben, möchte ich mich in meinem Projekt am Kulturwissenschaftlichen Kolleg mit ausgewählten Praktiken des Nichtwissens in stärker alltagsweltlich geprägten Kontexten beschäftigen. Nach dem gegenwärtigen Stand möchte ich Nichtwissens-Praktiken exemplarisch in drei unterschiedlichen historisch-sozialen Kontexten untersuchen und dabei auch nach übergreifenden Vergleichsgesichtspunkten fragen.
- Das erste Beispiel bildet der alltägliche individuelle und/oder familiäre Umgang mit Nichtwissen im Rahmen der so genannten prädiktiven Gendiagnostik, insbesondere im Hinblick auf das in diesem Bereich weithin anerkannte „Recht auf Nichtwissen“, das sowohl vor belastendem Wissen über zukünftig mögliche Erkrankungen als auch vor der Gefahr genetischer Diskriminierung durch Dritte schützen soll.
- Einen zweiten interessanten Fall stellen die umstrittenen Praktiken und Wirkungen des Nichtwissens im Kontext der so genannten heterologen Samenspende dar: Der Samen zur künstlichen Befruchtung stammt hierbei nicht vom Ehemann oder Lebensgefährten der Frau, sondern wird von einem Dritten gespendet. Anonymität der Spender scheint sich als funktional für viele der beteiligten Akteure zu erweisen (Erhöhung der Spendenbereitschaft, Schutz der Spender vor Unterhaltsansprüchen, Schutz der sozialen Eltern vor dem Eindringen „fremder“ Personen in das familiäre Beziehungsgeflecht). Andererseits wird die Anonymität der Samenspende von verschiedenen Seiten scharf kritisiert, vor allem mit dem Argument, dadurch werde das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner biologischen Herkunft verletzt.
- Aufschlussreich ist drittens die Rolle des Nichtwissens über politische Gewalttaten während und/oder nach diktatorisch-verbrecherischen politischen Regimen. Am Beispiel des Nationalsozialismus (und möglicherweise ergänzender) Fälle soll analysiert werden, welche Rolle das Nichtwissen (vor allem als „Nicht-Wissen-Wollen“ oder „Nicht-so genau-Wissen-Wollen“) jeweils unterschiedlich für die Täter, die „Mitläufer“ und die Opfer spielt: Inwieweit bietet es den Opfern Schutz vor schwer zu ertragendem Wissen, inwiefern ermöglicht Nicht-Wissen-Wollen es den Tätern und Mitläufern, im beruflichen Alltag weiterhin zu „funktionieren“, inwieweit trägt es damit zur Stabilisierung des Regimes bei und inwieweit wird (tatsächliches oder vorgeschobenes) Nichtwissen nach dem Ende des Regimes als Legitimationsressource und Begründung für Untätigkeit und Konformismus ins Feld geführt?
In allen diesen Fällen stellen sich soziologisch aufschlussreiche Fragen: Welche sozialen Faktoren motivieren zur Nutzung verfügbaren Wissens oder sogar zur aktiven Erschließung neuer Wissensquellen, welche fördern umgekehrt den partiellen oder völligen Verzicht auf vorhandenes Wissen und halten davon ab, nach zusätzlichem Wissen zu suchen? Welche Ziele werden von den Akteuren mit Wissen bzw. Nichtwissen verfolgt und welche Begründungen werden dafür jeweils gegeben? Welche Rolle spielen hierbei soziale Normen und diskursive Zuschreibungen, beispielsweise die geläufige Verknüpfung von Wissen mit Rationalität und Verantwortlichkeit sowie von Nichtwissen (besonders bewusstem Nicht-Wissen-Wollen) mit Irrationalität und Verantwortungslosigkeit? Wie wird Nichtwissen von unterschiedlichen sozialen Akteuren und Gruppen sowie in unterschiedlichen Handlungskontexten bewertet, wem wird Nichtwissen zugeschrieben oder zugerechnet und wem wird die Verantwortung für seine Konsequenzen zugewiesen? Welche sozialen Folgen werden dem Nichtwissen gesellschaftlich zugeschrieben und welche Wirkungen lassen sich tatsächlich beobachten?
Entscheidend ist, sich bei der Behandlung solcher Fragen von vorgängigen, kulturell eingespielten Rationalitätsannahmen zu lösen und ein striktes methodologisches Symmetrieprinzip zu beachten: Der „Wille zum Wissen“ (Michel Foucault) darf demnach nicht als etwas Selbstverständliches und „Natürliches“ vorausgesetzt werden darf, so dass der Wunsch, etwas nicht wissen zu wollen, als erklärungsbedürftiger (und moralisch fragwürdiger) Sonderfall erscheinen würde. Vielmehr muss beides, Wissen-Wollen ebenso wie Nicht-Wissen-Wollen, als kontingent und soziologisch gleichermaßen erklärungsbedürftig angenommen und in seinem jeweiligen sozialen Bedingungskontext „vorurteilsfrei“ untersucht werden. Das skizzierte Forschungsvorhaben wird sich in erster Linie auf die Auswertung der einschlägigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Literatur sowie gut zugänglicher Dokumente konzentrieren.
Das Ziel ist es, zunächst die kontextspezifische Vielfalt, Heterogenität und Ambivalenz von Nichtwissens-Praktiken und ihren sozialen Bewertungen an exemplarischen Fällen sichtbar zu machen. Möglicherweise lassen sich dabei in einem zweiten Schritt übergreifende Begründungsmuster für und charakteristische Effekte von Nichtwissens-Praktiken erkennen. Vermutlich wird die Untersuchung aber auch zeigen, dass verallgemeinerbare Aussagen über funktionale oder dysfunktionale Wirkungen von Nichtwissen für soziale Stabilität und Integration sich kaum treffen lassen, ganz abgesehen davon, dass Stabilität und Integration nicht ohne Weiteres als positive Bezugspunkte sozialwissenschaftlicher Analysen vorausgesetzt werden können.