Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Abstract

Die Organisationskultur der Moderne ist auf Zweck- und Normrationalität ausgerichtet. Gleichwohl beobachten wir in der modernen Welt nicht nur Organisationsformen, die diesem kulturellen Leitbild widersprechen, vielmehr scheinen die Abweichungen unter bestimmten Bedingungen sogar funktional und der Integration der jeweils übergeordneten Systeme administrativer oder politischer Ordnungen förderlich zu sein. Beispiele hierfür sind interpersonelle oder interorganisatorische Netzwerke, Nonprofit- oder Nicht-Regierungsorganisationen, politische Bewegungen und Kampfbünde, Übergangsverwaltungen und ad hoc-Institutionen wie Krisenstäbe oder Sonderbevollmächtigte.

Abweichungen vom Standard norm- und zweckrationaler Organisationskultur werfen für die betreffenden Organisationen gleichwohl fundamentale Probleme auf. Sie können aufgrund ihrer relativen Entkopplung von der „normalen“ Welt zweck- und normrationaler Organisationen nicht auf die stetige Zufuhr personeller und monetärer Ressourcen rechnen. Sie werden als Fremdkörper oder ephemere Gebilde wahrgenommen, deren Beziehungen zum System der Normalorganisationen unstet und latent instabil bleiben. Die Abweichungen von den Maßstäben der Zweck- und Normrationalität bilden ein beständiges Legitimationsrisiko. Die Missachtung von Verfahrensregeln oder Professionalitätsstandards innerhalb und außerhalb der Organisation kann zum Verlust ressourcen-orientierter, ideeller oder politischer Unterstützung führen.
Daraus ergeben sich drei Fragenkomplexe, denen die geplante Untersuchung nachgehen soll:

  • Was sind die Funktionsbedingungen prekärer Organisationen? Was hält sie zusammen?
  • Was ist die jeweilige Funktionalität prekärer Organisationen? Warum existieren sie?
  • Auf welche Weise werden prekäre Organisationen in die Welt der Normalorganisationen eingebettet? Welche Mechanismen regulieren das hier auftretende Schnittstellenproblem?

Die Untersuchung geht diesen Fragen in vier Gegenstandsbereichen nach:

  1. Interimsverwaltungen und transitorische Organisationen (Besatzungsverwaltungen, Übergangsverwaltungen, Mandatsverwaltungen, Protektoratsverwaltungen),
  2. halbstaatliche Organisationen und Sonderverwaltungen im Nationalsozialismus,
  3. Nonprofit- und Nichtregierungsorganisationen,
  4. interindividuelle und interorganisatorische Netzwerke.

Als innovativ kann insbesondere die Anwendung organisationstheoretischer und organisationssoziologischer Konzepte auf historische Verwaltungsphänomene, etwa Mandatsverwaltungen des Völkerbundes und der nationalsozialistischen Verwaltung, sowie die vergleichende Betrachtung sehr unterschiedlicher Organisationsfelder unter dem übergreifenden Gesichtspunkt der Nischenbildung in der Organisationskultur der Moderne gelten. Dabei dürfen spezifische Einzelfragen auf besonderes Interesse rechnen, etwa inwieweit es sich bei der in der Literatur häufig als „polykratisch“ oder als „organisiertes Chaos“ charakterisierten Verwaltung des Nationalsozialismus um einen Rückfall in vormoderne Verwaltungsformen oder womöglich um Vorboten postmoderner Verwaltung gehandelt hat, wie sie zum Standardrepertoire von Verwaltungsreformen der Gegenwart zählen (etwa Netzwerke, ‚Outsourcing’, Sonderstäbe, Taskforces etc.).

Publikationen

Cover

Sven Reichardt und Wolfgang Seibel (Hrsg.): Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im National­­sozialis­mus, Frankfurt/M. New York: Campus, 2011.

darin auch:

Sven Reichardt und Wolfgang Seibel: Radikalität und Stabilität: Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, S. 7-28.

Wolfgang Seibel: Polykratische Integration: Nationalsozialistische Spitzenbeamte als Netzwerker in der deutschen Besatzungsverwaltung in Belgien 1940-1944, S. 241-274.