Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

Den Warschauer Aufstand von 1944 erinnern

Polnische Erinnerungsdiskurse in Heimat und Exil am Beispiel des Warschauer Aufstandes (1945–1990)

Agata Nörenberg (mit Prof. Dr. Bianka Pietrow-Ennker)

Abstract

Angesichts eines in den vergangenen Jahren wahrnehmbaren Transformationsprozesses des kollektiven Gedächtnisses in Polen (Claudia Kraft) greift das Projekt den zentralen Gedächtnisort (Pierre Nora) des Warschauer Aufstandes von 1944 und den damit zusammenhängenden Erinnerungsdiskurs auf. Die erkenntnisleitende Frage lautet dabei: Wie entwickelte sich das Narrativ vom aufopfernden und heldenhaften Kampf um die Freiheit Polens während des Warschauer Aufstandes in der sozialistischen Volksrepublik Polen einerseits und im bürgerlich-republikanischen polnischen Exil andererseits und wie wurde dieses Narrativ jeweils geschichtspolitisch eingesetzt? Hierfür sollen die Prozesse von Integration und Identitätsbildung am Beispiel der verschiedenen Diskursstränge des Erinnerungsdiskurses über den Warschauer Aufstand anhand von drei exemplarisch ausgewählten Erinnerungsgruppen in der Volksrepublik Polen (VRP), London und Paris im Zeitraum von 1945 bis 1990 analysiert und miteinander vergleichen werden.

Nach dem Ende des von der polnischen bürgerlich-republikanischen Exilregierung zusammen mit der Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) am 1. August 1944 ausgerufenen Warschauer Aufstandes entwickelten sich sowohl im polnischen Exil als auch in der VRP Erinnerungskulturen, die trotz der gegensätzlichen politischen Systeme, in die sie eingebettet waren, über gemeinsame Elemente verfügten, die eines Helden-Opfer-Narrativs. Dieses bezieht sich auf eine martyrologische und heroisierende Interpretation der polnischen Geschichte. In diesen beiden Geschichtsmythen kulminieren alle historischen Erfahrungen seit Beginn der Teilungszeit im 18. Jahrhundert und werden in der Bezeichnung Polens als „Christus der Völker“ in ihrer romantisch-messianistischen Geschichtsauffassung zusammenfasst (Claudia Kraft; Krzysztof Ruchniewicz). Darüber hinaus verbinden sich diese beiden Elemente der polnischen kollektiven Identität in der Überlieferung der polnischen Aufstandstradition (Włodzimierz Borodziej).

Dem Projekt liegt die Annahme zugrunde, dass das Helden-Opfer-Narrativ, unabhängig von allen politischen und ideologischen Differenzen der Erinnerungsgruppen, den Nukleus des Erinnerungsdiskurses um den Warschauer Aufstand bildete. Das Helden-Opfer-Narrativ diente sowohl in der VRP als auch im polnischen Exil dem Integrationsprozess der polnischen Gesellschaft, so die Hypothese. Da sich Polen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einem (erneuten) Nationsbildungsprozess befand, galt es, die Bürgerinnen und Bürger dieser neuen Republik mit Hilfe der kommunistischen Ideologie zu integrieren. Hierbei spielte die Erinnerung an die heldenhaften und tragischen Ereignisse des Aufstandes als identitätsstiftendes Moment eine zentrale Rolle und ließ sich gleichzeitig in die geschichtspolitischen Ziele einbinden. Man bediente sich gewissermaßen ein und desselben Narrativs zur Herausbildung verschiedener kollektiver Identitäten: einer sozialistisch-kommunistischen Identität einerseits und einer nationalistischen andererseits, die an die Tradition der Zweiten Republik (1919 – 1939) anknüpfte.

In diesem Zusammenhang ist die Frage zu beantworten, warum trotz ihrer unterschiedlichen Wertesysteme beide Seiten auf dasselbe Narrativ zurückgriffen. So waren die Figuren des Helden und des Opfers jeweils unterschiedlich definiert, sprachen jeweils andere soziale und politische Gruppen an und beinhalteten unterschiedliche Integrationsangebote: Während die kommunistische Definition mit sowjetischen Vorbildern verknüpft war, was sich beispielsweise in der Hervorhebung der einfachen Aufständischen widerspiegelte, knüpfte die des polnischen Exils an das patriotische Leitbild der Zwischenkriegszeit und der damit verbundenen nationalen Idee an.

Die diskursive Erzeugung des Narrativs und seine Einbettung in die jeweilige Geschichtspolitik sollen anhand ausgewählter Zeitfenster miteinander verglichen werden, die neben runden Jahrestagen auch politische und gesellschaftliche Ereignisse einbinden. Als Quellen dienen für diesen Vergleich die Presse und der Hörfunk, in denen sich auch andere Medien widerspiegeln, beispielsweise durch Rezensionen, Memoiren, Interviews, Visualisierungen usw. Dabei handelt es sich um zentrale Presseorgane, wie z. B. das Blatt der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei „Trybuna Ludu“, die in London erschienene Zeitung „Dziennik Polski i Dziennik Żołnierza“ oder die Pariser „Kultura“. Schwerpunkte der Analyse sind neben der Integrationsleistung des Erinnerungsdiskurses, dem historischen Kontext und den am Diskurs teilhabenden Trägergruppen auch deren Kommunikationsstrategien, transnationale Vernetzungen und Interaktionsmuster.