Abstract
Das Dissertationsprojekt ist hervorgegangen aus dem Doktorandenkolleg „Zeitkulturen“ und nähert sich aus literaturwissenschaftlicher Sicht wissenschaftlichen und literarischen Texten der Frühen Neuzeit, um in ihnen das, was in ideengeschichtlicher Tradition häufig das ‚Weltbild‘ genannt wurde, als raum-zeitliche Konfigurationen von Texten nachzuweisen. Der wissensgeschichtliche Anspruch der Arbeit liegt dabei vor allem darin, die Einseitigkeit des sogenannten „spatial turn“ der Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zu einem „spatio-temporal turn“ (S. 9, in Anschluss an Michael C. Frank) zu modifizieren.
Ziel des Projektes war es zu zeigen, inwieweit veränderte Raumkonzeptionen in der Frühen Neuzeit einem neuen und vertieften Verständnis von Zeit Vorschub leisten und wie umgekehrt der Raum durch veränderte Zeitvorstellungen neu dimensioniert wird. Die zentrale These lautet, dass in der Frühen Neuzeit eine epistemische Verschiebung stattfindet von einem statisch-allegorischen zu einem dynamisch-konkreten Raum, und, in enger Verschränkung mit dieser Entwicklung, von einer zyklisch-entsemantisierten zu einer linear-semantisierten Zeit. Diese Dynamik kann auch in literarischen Sujets nicht mehr einfach restitutiv stillgestellt werden, sondern ruft eine Erschütterung der kulturellen Ordnung als ganzer hervor. Allerdings vollzieht sich der Übergang von der alten zur neuen Raum-Zeit keineswegs bruchartig, was zu einer eigentümlichen Koexistenz unterschiedlicher, teilweise widersprüchlicher Raum-Zeiten führt. Mithilfe eines synchronen Querschnitts, der einen Zeitraum von ca. 1550 bis 1665 umfasst, wurde anhand von historiographischen, publizistischen, wissenschaftlichen, fiktionalen und Gebrauchstexten herausgearbeitet, in welchen raum-zeitlichen Konstellationen sich die typisch frühneuzeitliche Spannung zwischen einem alten und einem neuen Weltbild konkretisiert.
Das Textkorpus wird dadurch zusammengehalten, dass sich alle untersuchten Texte auf einen gemeinsamen lebensweltlichen Raum bzw. seine Imagination in Texten beziehen, nämlich die Stadt Sevilla um 1600. Die Stadt fungiert dabei als mit Hilfe bestimmter Kulturtechniken imaginierter Raum der Wissens- und Handlungsorganisation, in dem sich frühneuzeitliche Zeitkonzepte räumlich sichtbar machen lassen. Sevilla bietet sich insbesondere deswegen in der spanischsprachigen Kultur der frühen Neuzeit als Untersuchungsgegenstand an, weil sich in der Stadt am deutlichsten die prägende historische Spannung der Jahre um 1600 zeigt: Es handelt sich um die Spannung zwischen empirischer Öffnung und allegorischer Schließung der raum-zeitlichen Wissensordnungen, oder, anders ausgedrückt: zwischen dem Bedürfnis, Wissen angesichts der weltweiten Netzwerke, die in Sevilla vor allem durch die Kolonialverwaltung entstehen, neu anzuordnen, um seiner Verzeitlichung Rechnung zu tragen einerseits, und der gegenreformatorischen „Diskurs-Renovatio“ (Küpper), die kontrafaktisch eine kosmologische Ordnung beschwört, die längst schon ins Wanken geraten ist andererseits.
Publikation
Miriam Lay Brander: Raum-Zeiten im Umbruch. Erzählen und Zeigen im Sevilla der Frühen Neuzeit. Bielefeld: transcript, 2011.