Die Doppelkarriere eines Konzepts: „Reflexivität“ als Zeitdiagnose und als Forschungsstrategie im sozialwissenschaftlichen Diskurs
Abstract
Das Forschungsprojekt, das im Rahmen der Forschungsgruppe „Idiome der Gesellschaftsanalyse“ verfolgt wird, nimmt seinen Ausgang beim Befund, dass der Begriff der Reflexivität derzeit eine doppelte Konjunktur im sozialwissenschaftlichen Diskurs hat: einerseits als zentrale Kategorie sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnostik, andererseits als eine Forschungsstrategie, die die Positionalität der Forschenden im Prozess der Erkenntnisproduktion explizit thematisiert.
Im ersten Sinne wird unter Reflexivität, allgemein gesprochen, eine gegenwärtige gesellschaftlich-kulturelle Makrokonstellation verstanden, in der die Fernwirkungen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse negativ auf deren Fungibilitätsgrundlagen zurückschlagen. Beispiele hierfür werden vor allem, jedoch nicht nur, von den Theoretikern der „zweiten“ oder „reflexiven Moderne“ gegeben (etwa Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash), so etwa die Untergrabung der Wirkmächtigkeit politischer Entscheidungen durch ihre massenmediale Zirkulation, das Zurückschlagen von Industrialisierungsprozessen auf deren natürliche Grundlagen und das Entgleiten der Folgen nationalstaatlicher Politiken aus dem regulativen Rahmen des Nationalstaats.
Im zweiten Sinne bezeichnet Reflexivität eine Forschungsstrategie, die die Einwirkung des Forschungsprozesses auf den Forschungsgegenstand in Rechnung stellt und auf diese Weise zu kontrollieren versucht. Prononciertester Vertreter dieser Strategie in der Soziologie war Pierre Bourdieu, dem zufolge „wissenschaftliche Reflexivität“ impliziert, dass neben der Datenerhebung, -auswertung, Interpretation und Generalisierung eine Theorie der soziologischen Praxis mitlaufen muss, die den Einfluss der Forschungspraxis auf die Konstitution und Interpretation des Untersuchungsobjekts reflektiert und auf diese Weise minimiert.
Das Forschungsprojekt beschäftigt sich mit den Gründen und den Folgen dieser Doppelkarriere des Konzepts der Reflexivität. Es formuliert folgende Forschungsagenda:
- Eine Genealogie von Reflexivität als sozialwissenschaftlich relevanter Doppelkategorie. Hier steht insbesondere die inter- und transdisziplinäre Zirkulation des Konzepts zwischen den Disziplinen Literaturwissenschaft, Anthropologie, Soziologie und Philosophie im Vordergrund. Bei der Nachzeichnung dieser Genealogie ist besonderes Augenmerk nicht nur auf die Kanonisierung von Verständnissen von Reflexivität zu achten, sondern auch auf Verzweigungen der Debatte, die nicht kanonisiert wurden.
- Eine Konstitutionsanalyse reflexiver Positionalitäten vor dem Hintergrund ihrer Abgrenzungen von der bisherigen Theoriebildung und Forschungspraxis. Eine solche Rekonstruktion reflexiver Kritik an „überkommenen“ Forschungspraxen und Theorien muss sich darauf konzentrieren, welche spezifischen Geschichten der jeweiligen Disziplinen konstruiert werden, um die Kategorie der Reflexivität zu legitimieren (vgl. Donald Levine, Visions of the Sociological Tradition).
- Die Identifizierung institutioneller Faktoren und gesellschaftlicher Vorverständnisse, die zur Doppelkarriere des Konzepts beitrugen, und die Nachzeichnung von Bezügen zwischen den beiden Verwendungsweisen des Konzepts. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Legitimationsbedürftigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens interessieren in diesem Zusammenhang rhetorische Strategien der Überredung, die von Vertretern reflexiver Zugänge zu Zeitdiagnostik und Forschungsstrategie gegenüber ihren Publika bzw. ihren Förderinstitutionen zum Einsatz gebracht werden, sowie diskursive Praxen sozialwissenschaftlicher Kritik und Gegenkritik an Forschungsagenden, mittels derer auf zugrunde liegende vorreflexive Einverständnisse geschlossen werden kann.