Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Soziologischer Sentimentalismus und naturalistischer Roman

Zur Urgeschichte moderner Sozialtheorien im 19. Jahrhundert

PD Dr. Ingo Stöckmann

Abstract

Im letzten Drittel des 19 Jahrhunderts lässt sich eine folgenreiche und bislang unerforschte diskursive Konstellation beobachten. Parallel zur Konstitutionsphase der frühen Soziologie (Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Max Weber) richtet der soziale Roman des Naturalismus seine erzählerischen Energien auf all jene Erfahrungen sozialer Desintegration, die das sozialtheoretische Bild von Struktur und Verlauf der sozialen Modernisierung bis heute prägen. Auffällig ist dabei, dass in beiden Feldern derselbe Vorstellungshaushalt wirkt und um ein sentimentalisches Erzählschema herum organisiert wird: Modernisierung ist in der frühen Soziologie wie im sozialen Roman identisch mit dem Verlust einer ursprünglich-organischen Nahwelt (‚Gemeinschaft’) und der Ausdifferenzierung einer Sphäre abstrakt-mechanischer Sozialbeziehungen (‚Gesellschaft’).

Man hat es an dieser Stelle mit nichts geringerem zu tun als mit einer Urgeschichte moderner sozialtheoretischer Vorstellungen über die Moderne. Sie sind – in Romantexten von Max Kretzer, Wilhelm von Polenz, Conrad Alberti, Peter Rosegger, Ernst von Wildenbruch und Michael Georg Conrad wie in den Gründungsschriften der frühen Soziologie – aus Prozessannahmen gewonnen, die Vorstellungen von Anomie und Desintegration auf einen ehemals homogenen sozialen Körper anwenden. Schon aus diesem Grund, d.h. aus der Notwendigkeit heraus, soziale Transformationen als  Prozesse in der Zeit gestalten zu müssen, berühren sich Roman und Soziologie in der Unhintergehbarkeit des Erzählens als Selbstkonstitutionsmoment der Moderne.

Man kann das angedeutete Schema bei allen soziologischen Klassikern nachweisen: Bei Tönnies in der Disjunktion von Gemeinschaft und Gesellschaft; bei Simmel, dessen Konzept der „socialen Differenzierung“ auf einer ehemals „primitiven Gruppe“ ruht; bei Durkheim und seiner Unterscheidung zwischen „mechanischer“ und „organischer“ Solidarität; bei Weber schließlich in den frühen nationalökonomischen Arbeiten zum Untergang der Genossenschaftsstrukturen in den ostelbischen Gebieten – ein lokaler Teilprozess der Modernisierung im Übrigen, der auch bei Polenz zur gleichen Zeit thematisch ist. Analog erzählt der in der Forschung fast vollständig unerschlossene soziale Roman Geschichten vom Verfall des Kleinhandwerks (Kretzer: Meister Timpe [1889], Wildenbruch: Meister Balzer [1893]), vom Untergang des Großbauerntums (Polenz: Der Büttnerbauer [1895], Rosegger: Jakob der Letzte [1887]), vom Zerfall der paternalistischen Genossenschaften (Polenz: Der Grabenhäger [1897]), vom tief greifenden Zerwürfnis der Generationen (Alberti: Die Alten und die Jungen [1889]) oder von der Entsubstantialisierung des Sozialen in den ubiquitären Vertragsverhältnissen der Moderne (Conrad: Was die Isar rauscht [1888]).

Leitend sind drei Gesichtspunkte:

  1. Gestaltung von Zeit — Schon Durkheims frühe Kritik an Tönnies hatte gezeigt, dass die typologische Begriffsbildung der Soziologie nicht ohne das Denken von ‚Entwicklung’ zu haben ist. Wollte man an den Begründungstexten der frühen Soziologie in Anlehnung an erzählanalytische Termini eine histoire- von einer discours-Ebene unterscheiden, so würde man auf der Ebene des discours fortwährend auf Indexikalisierungen von Zeit und analeptische Erzählsignale stoßen. Gerade weil soziale Modernisierung konstitutiv auf eine Darstellung als Prozess bezogen ist, gehen in die begriffliche Konstitution der Soziologie weniger erfahrungsförmige Substrate ein, als vielmehr Darstellungszwänge, die den disjunkten Status von ‚Gemeinschaft’ und ‚Gesellschaft’ aus nicht explizierten narrativen Gründen allererst herleiteten.
  2. Verschuldungsmythos und Feindschaft — An derselben Problemstelle – der Überführung von organischen in mechanische Sozialformen – kann der soziale Roman unbedenklich(er) erzählen. Er tut dies, in dem er das Modernisierungsgeschehen durch Mythen schuldhafter Entzweiung veranschaulicht. Beinahe alle Romantexte folgen diesem Schema, indem sie vor allem die Söhne aus dem Kontinuum der Solidaritäten und Ehrbegriffe ausscheren lassen, mit denen sich die Väter als Bewahrer der Gemeinschaft behaupten. In den Bann dieses ‚Verrats’ geraten all diejenigen, die durch Diebstahl, Veruntreuung und Vertragsschlüsse Zerwürfnisse einleiten, die quer durch den symbolischen Körper der Familie verlaufen; insofern beruht der soziale Roman auf einer Figuration des ‚Feindes’, die der Struktur antagonistischer Erzählungen entspricht.
  3. Logik des Supplementären — Wenn es zutrifft, dass Gemeinschaften als Erfahrungssubstrat von sozialer Ganzheit historisch ungedeckt sind, dann wächst ihrer Konstruktion unweigerlich ein supplementärer Status zu. ‚Gemeinschaft’ ist der Name für den Verlust eines nie stattgehabten Ursprungs und fungiert in temporaler Hinsicht als ein ‚nachträgliches’ gesellschaftliches Supplement, in narratologischer Hinsicht als ein notwendiges Erzählkorrelat, mit dem Modernisierungsprozesse überhaupt darstellbar werden. Damit lässt sich die lang anhaltende Kontroverse zwischen einem ontologischen und einem dekonstruktivistischen ‚Denken der Gemeinschaft’ entdramatisieren, in dem man die konstitutive Funktion des Erzählens hervorhebt und auf das Zusammenspiel von literarischer Fiktion und kultureller Semantik wendet.