Erzählen vom fremden Heiligen in Mittelalter und Früher Neuzeit
Abstract
Ausgehend von der grundsätzlichen Nicht-Diskursivierbarkeit (und damit auch Nicht-Relativierbarkeit) des Heiligen als dem Kern von Religion, stellt das Projekt die Frage, wie mit diesem für das Heilige konstitutiven Moment des ineffabile im Blick auf andere religiöse Kulturen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit verfahren wird. Ziel der Forschungen ist es, durch Feinanalyse narrativer Verfahrensweisen die Ausbildung verschiedener Mechanismen der Wahrnehmung, Erkenntnis, Wertung und Definition von religiös Fremdem zu beschreiben.
Neben der grundlegenden Frage nach wahrnehmungskonstituierenden und beobachtungsgenerierenden Momenten im Narrativ richtet sich der Blick auf rhetorische Prozesse der Integration/Alienation in Erzählungen von fremdem Heiligem, auf Ritualisierungen und Performanzen des Narrativs sowie auf mediale Aspekte. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei Verschiebungen von Diskursgrenzen, Überschreitungen von Gattungsgrenzen und Veränderungen von Rezeptionskontexten und deren jeweiliger Funktion im Umgang mit dem fremden Heiligen.
Als Grundlage werden in erster Linie Texte der mittelalterlichen volkssprachlichen Literatur, der Reiseliteratur (Pilgerberichte, Reiseberichte, Missions- und Kaufmannsliteratur), historiographische sowie kosmographische Texte, Traktatliteratur, Predigtliteratur sowie enzyklopädische Texte herangezogen. Die Zeitspanne reicht vom 12. bis zum 16. Jahrhundert. Da der Bildkultur im Umgang mit dem Heiligen eine prominente Rolle zukommt, bezieht sich das Projekt nicht nur auf sprachliche Narrative, auf Texte, sondern auch auf den Umgang mit Phänomenen eines fremdem Heiligen im Bild.
Die Untersuchungen werden eng verknüpft mit diskursgeschichtlichen, wissens- und kulturtheoretischen Fragestellungen. Erst im Rahmen der Konstituierung einer Religionswissenschaft im engen Verbund mit den Anfängen der Psychoanalyse, Anthropologie und Soziologie in der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts werden Phänomene des Religiösen in einen wissenschaftlichen Diskurs im modernen Sinn hineingebracht; es entsteht ein eigener Diskurs des Heiligen. Die Frage ist, ob sich darin nicht narrative Grundmuster und rhetorische Feinstrukturen wiederfinden, in denen sich das Potenzial eines vormodernen, gerade nicht säkularisierten, gerade nicht aufgeklärten Umgangs mit dem fremden Heiligen in der Latenz bewahrt hat. Die großen Grenzziehungs-Narrative der Moderne gegenüber Kulturen mit anderen religiösen Traditionen (u. a. der islamischen Welt) wären dann von sich ausbildenden Diskursen des Anderen und des anderen Glaubens in der Vormoderne geprägt.