Universität KonstanzExzellenzcluster: Kulturelle Grundlagen von Integration

Narrative des Verfalls

Atavismus und Degeneration als interdiskursive Erzählmodelle in der russischen Kultur (1880-1900)

Dr. Riccardo Nicolosi

Abstract

Im Zentrum des Arbeitsvorhabens steht die russische Adaptation der Narrative von Degeneration und Atavismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Diese findet in einem interdiskursiven Feld zwischen Wissenschaft (Psychiatrie und Kriminalanthropologie) und Literatur statt und führt zu einer für die russische Kultur ungewöhnlichen Biologisierung sozialer Desintegrationsprozesse.

Mit der ‚Erfindung’ von Degeneration und Atavismus reagieren die europäischen Kulturen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf die Anomie-Ängste, die durch die Wahrnehmung der bedrohlichen ‚Nachtseite’ des Fortschritts entstehen. Als medizinische Erklärungsmuster für sich ‚epidemisch’ verbreitende Devianz-Phänomene wie Wahnsinn, Kriminalität oder Alkoholismus werden Degeneration und Atavismus im psychiatrischen (B.A. Morel, V. Magnan, P.J. Möbius, R. v. Krafft-Ebing) und kriminalanthropologischen (C. Lombroso) Diskurs konzeptualisiert: Sie versprechen, nicht zuletzt aufgrund detaillierter Stigmata-Kataloge, eine eindeutige Sichtbarmachung sozialer Desintegrations-Phänomene. Die permanente Verschiebung der Grenze zwischen dem Normalen und dem Pathologischen führt jedoch zu einer an Referenzlosigkeit grenzenden semiotischen Offenheit, welche die heuristische Brauchbarkeit dieser Konzepte in Frage stellt. Dass Atavismus und Degeneration dennoch einen ungeheuren wissenschaftlichen Erfolg hatten, lässt sich – so die These – im wesentlichen aus der Verfasstheit der sie konstituierenden Erzählmodelle erklären, die allein wissenschaftliche Kohärenz und Evidenz garantieren. Das deterministisch-hereditäre Narrativ erweist sich im Falle der Entartung als genealogische Verfallsgeschichte mit teleologischer Sujetfügung; im Falle des Atavismus als Erzählung über kollektive Regressionsprozesse, die die Fortschrittsgesellschaft zur ‚unzusammenhängenden Gleichartigkeit’ (Spencer) primitiver Gesellschaften zurückzuführen drohen. In beiden Fällen gestaltet sich das Narrativ als ein dynamisches Kräftefeld, in dem sowohl eine segmentierend und sinnstiftend wirkende Linearisierung als auch eine maximale semiotische Offenheit wirksam sind: Dies garantiert dem Narrativ hohe Flexibilität bei der Beschreibung disparater Devianz-Zustände.

Die russische Psychiatrie verzeichnet eine intensive, bislang gleichwohl unerforschte Rezeption der Degenerations- und Atavismusnarrative, mit deren Hilfe unterschiedliche Anomie-Phänomene erklärt werden, die als Erscheinungen einer kollektiven Nervenzerrüttung gesehen werden. Spezifisch russisch ist dabei die Postulierung eines Zusammenhangs zwischen der ‚krankhaften’ Modernisierung Russlands und den westlich orientierten Reformen der 1860er Jahre. Damit knüpfen Psychiater an die Vorstellung von sozialer Desintegration als organischer Zersetzung an, die – mit unterschiedlicher ideologischer Gewichtung – von den Populisten sowie von den Slavophilen bzw. Panslavisten (N.Ja. Danilevskij) bereits in den 1870er Jahren formuliert worden war, wobei die ‚Zersetzung’ als Folge einer ‚Infizierung’ des sozialen Organismus mit westlichem Gedankengut (vom Kapitalismus bis hin zum Liberalismus) verstanden wurde. Diese für die russische Kultur typische, auf der Opposition Russland vs. Europa basierende Verfallserzählung erfährt im psychiatrischen Kontext eine biologistische Umschreibung, die besonders in der Rezeption der Atavismustheorie mit der sie konstituierenden Idee des ‚geborenen Verbrechers’ (Lombroso) zutage tritt.

Die russische Literatur entwickelt bereits gegen Ende der 1870er Jahre Erzählmodelle, die den Degenerations- und Atavismusnarrativen strukturell entsprechen und diese zum Teil antizipieren: den Degenerationsroman, der in Auseinandersetzung mit dem französischen Naturalismus (E. Zola) entsteht und unterschiedlichen sozialen Formen genealogischen Sterbens fiktionale Form gibt (vgl. z.B. die Degeneration des Landadels bei M. Saltykov-Ščedrin, der Bergbauunternehmer bei D. Mamin-Sibirjak und der Großstadt-Bourgeoisie bei P. Boborykin und I. Jasinskij); und die literarische Skizze (očerk), die sich mit atavistischen Zuständen auf dem Lande (die Bauernliteratur von F. Rešetnikov bis S. Karonin) und in der Stadt (die Armenviertelliteratur von V. Krestovskij bis V. Giljarovskij) beschäftigt. Die diskursanalytische Untersuchung dieser weitgehend vergessenen, im weitesten Sinne naturalistischen Literatur fördert eine tiefenstrukturelle biologistische Dimension der russischen Kultur des 19. Jahrhunderts zutage, die – aufgrund einer postulierten ‚Immunität’ dieser Kultur gegenüber Konzepten wie Sozialdarwinismus oder Rassentheorie – bislang keine Beachtung gefunden hat. Zugleich soll gezeigt werden, dass die literarische Entfaltung von Verfallsnarrativen die Entstehung von Schreibweisen begünstigt, die – wie die Reduktion von Ereignishaftigkeit – die Prosa der russischen Moderne (Čechov) antizipieren.