Universität KonstanzExzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“

An den Rändern der Geschichte: Historische und epistemologische Bedingungen minoritärer Wissensformationen

Slowenische Grammatiken von der Reformation bis 1945

Dr. Monika Wulz

Abstract

Das Forschungsprojekt setzt sich sowohl eine historische Untersuchung als auch eine theoretische Fragestellung zum Ziel.
Im Zentrum der historischen Untersuchung steht die kulturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Aufarbeitung slowenischer Grammatiken von 1584 bis 1945. Die Grammatiken sollen dabei als epistemologische Interventionsformen in ihrem konkreten Auftreten und Anspruch sowie in ihrer Bezugnahme auf die jeweilige historisch-politische Situation untersucht werden. Von der Reformation, über das Aufkommen nationaler Identitäten im 19. Jahrhundert, den Niedergang der österreichisch-ungarischen Monarchie, die Grenz- und Minderheitsfragen im Österreich der Zwischenkriegszeit bis hin zur Phase des 2. Weltkriegs und der Verfolgung und Ausgrenzung von Sloweninnen und Slowenen im Dritten Reich handelt es sich hier um sehr unterschiedliche historische Situationen. Vor all diesen Hintergründen treten die Grammatiken in einer dreifachen epistemologischen Konstellation auf: Sie agieren (1) als systematisierende Unternehmen, (2) mit historiographischen Interventionen und (3) pädagogischen Absichten. Ziel des Forschungsprojekts ist es, anhand dieses Zusammentreffens systematisierender, historiographischer sowie pädagogischer Elemente die Grammatiken als paradoxe Praktiken der Wissensproduktion zu untersuchen. Sie schaffen nicht nur eine sprachliche und kulturelle Identität, sondern sie stellen in ihrem jeweiligen historischen Auftreten im strengen Sinne erst das her, was sie in ihrem pädagogischen Vorhaben zu vermitteln suchen: Die Realität einer slowenischen Sprache als epistemisches Objekt.

Diese dreifache Konstellation macht die Untersuchung der Wissensgeschichte slowenischer Grammatiken für die Frage nach dem historisch situierten Auftauchen epistemischer Objekte sowie nach den Bedingungen und der Konstruktion von Wissenskollektiven und ihrer kulturellen Identität besonders interessant: Indem sie aus ihrer jeweils konkreten historischen Situation heraus eine rekurrente Geschichte gegen die bisher anerkannte Geschichtsschreibung formulieren und damit das Wissen über eine systematisierte slowenische Sprache als Gegen-Wissen mit pädagogischem Anspruch erzeugen, dienen die slowenischen Grammatiken als Studienobjekte einer historischen Epistemologie in actu, welche ihre epistemischen Objekte erst als Resultate ihrer historiographischen Intervention sowie als Effekte der sprachlichen Praxis ihrer Adressaten hervorbringt.

Ausgehend von dieser historischen Untersuchung hat das Forschungsprojekt darüber hinaus eine theoretische Ausrichtung, welche am Schnittpunkt von wissenschaftstheoretischen und gesellschaftspolitischen Fragestellungen angesiedelt ist: Es fragt nach jenen epistemologischen Bedingungen, die das Entstehen minoritärer Wissensformationen ermöglichen. Im Gegensatz zu einer wissenssoziologischen Perspektive geht es mir in diesem Teil des Projekts nicht nur darum, Wissen als sozial bedingtes und historisch gewordenes Phänomen zu behandeln. Vielmehr sollen anhand aktueller Ansätze der Wissenschaftstheorie und politischen Theorie (Haraway, Latour, Pickering, Rheinberger, Stengers; Althusser, Foucault, Rancière; Gramsci) verschiedene Szenarien des Auftauchens epistemischer Objekte im Verhältnis zur gleichzeitigen Transformation eines sozialen und historisch bedingten Wissenskollektivs entwickelt werden. Welche Rolle spielt hier die Geschichtsschreibung? Aus welcher Perspektive wird die Sammlung und Interpretation empirischer Daten durchgeführt?

Das theoretische Interesse dieses Projekts richtet sich also auf Art und Funktion jener epistemologischen Praktiken, die an den Rändern eines konkret situierten Wissenskollektivs neue epistemische Objekte in ihrer gesellschaftlichen und historischen Relevanz entstehen lassen.