„Dass ein jeder in seinem Glauben selig werden kann”
Der Diskurs der religiösen Vielfalt im Mittelalter an den Grenzen der Exklusivität
Abstract
Trotz der Versuche der mittelalterlichen Gesellschaften, das Ideal der religiösen Einheit zu erreichen, ist ihnen dies nie gelungen. Vielmehr war die Multireligiosität die von vielen Zeitgenossen erfahrene Realität. Für den Vorderen Orient ist dies allseits bekannt. In den größeren Städten lebten oft mehrere christliche Konfessionen und unterschiedliche Richtungen jüdischer und muslimischer Gruppen zugleich. Doch auch in Europa gab es überall jüdische Minderheiten sowie Muslime vor allem in Süd- und Osteuropa. Außerdem waren seit dem 12. Jahrhundert häretische Gruppen unterschiedlicher Prägung aktiv. Nicht selten existierten sogar mehrere Häresien nebeneinander in einer Stadt. Anders als unter islamischer Herrschaft waren sie einander zwar nicht gleichgestellt, gleichwohl bestand auch hier ein religiöser Markt mit unterschiedlichen Angeboten.
Diese Situation stellte den Absolutheitsanspruch der monotheistischen Religionen in Frage. Im 13. Jahrhundert taucht in den theologischen Schulen von Paris erstmals in lateinischer Sprache eine These auf, die diese Unsicherheit als theologisches Problem aufgreift: Ein jeder könne in seinem Glauben selig werden, sei er nun Jude, Muslim, Christ oder Häretiker. In Disputationen über diese These entschieden die Theologen, wenig überraschend, dagegen und verdammten sie als eine häretische Lehre. Aber Guillaume Peyrault (um 1190-1271) dokumentiert ein wichtiges Argument, das diesen Satz begründen konnte und das in anderen Zusammenhängen wieder begegnet: Gott in seiner Güte könne unmöglich eine so große Schar an Heiden und Juden geschaffen haben in der Absicht, sie alle zu verdammen. Er müsse ihren Glauben also wohl ebenfalls akzeptieren. Später wird diese Meinung in der erbaulichen Literatur für den einfachen Leser in der Volkssprache wiederholt. Auch in Inquisitionsprotokollen sind sie belegt.
Überraschenderweise sind weder die hochtheologischen Disputationen noch die Sätze in der spirituellen Literatur oder die Aussagen in den Inquisitionsprotokollen bisher je untersucht, geschweige denn miteinander in Zusammenhang gebracht worden. Ihr unmittelbarer Bezug zu ähnlichen Thesen, die sonst erst aus der Zeit der Aufklärung und der Säkularisierung bekannt sind, fallen unmittelbar ins Auge. Sie sollen deshalb hier untersucht werden. Dabei verfolgt die Studie das Ziel, die kultur- und religionsgeschichtlichen Gefüge zu ermitteln, in denen diese Meinung aufkam.
Vorarbeiten haben ergeben, dass diese Stimmen keine Vorboten der Aufklärung sind, sondern im Gegenteil religionsgeschichtliche Nachzügler. Der Kontext dieser These ist der außerordentlich komplexe Diskurs der religiösen Vielfalt. Er nahm in den frühen theologischen Disputen zwischen Juden, Christen und Muslimen in den Wissenschaftszentren der Islamischen Welt im 8. und 9. Jahrhundert seinen Ausgang und verbreitete sich von dort über den Vorderen Orient, über Nordafrika und auf der Iberischen Halbinsel. Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts nahm auch die lateinische Welt an der wissenschaftlichen Diskussion dieser Welt stärkeren Anteil.
Zugleich steht dieser Diskurs in einer noch älteren Tradition. Schon seit der Spätantike hatten in diesem selben Raum Religionen und Konfessionen mit exklusiven Wahrheitsansprüchen nicht nur miteinander gerungen, sondern auch mit der Tatsache der Vielfalt selbst. Zahlreiche Probleme ergaben sich daraus. Dazu gehörte die verunsichernde Erfahrung des fehlenden Kriteriums, zwischen den unterschiedlichen Offenbarungen und ihren Wahrheitsansprüchen zu unterscheiden. Dieser Diskurs schlug sich in zahlreichen Genres wieder, zu denen neben theologischen Polemiken und theologischen Sektenenzyklopädien vor allem die bekannten Religionsdialoge gehören. In narrativer Form hat sich der Diskurs außerdem in den Geschichten von den Dreien (Drei Ringen, Drei Betrüger etc.) niedergeschlagen. In der Fassung von Lessing vertagt die Parabel von den drei Ringen die Entscheidung über die Echtheit der monotheistischen Religionen auf den Augenblick der Eschatologie. Sie stellt zugleich deren Absolutheitsanspruch in Frage und zieht die Forderung nach sich, andere Glaubensweisen gelten zu lassen. Die Vorgeschichte dieser Wanderparabel, deren bekannteste mittelalterliche Version von Boccaccio erzählt wurde, die jedoch ebenfalls zuerst im Bagdad des 8. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann, ist ein weiterer Kristallisationspunkt der Studie.
Immer war die Frage nach dem Heil der anderen von einer gewissen Brisanz: Wie stand es um die Chance des tugendhaften Ungläubigen oder Häretikers, der Nähe Gottes im Himmel nach der Auferstehung teilhaftig zu werden (im Vergleich zum nicht tugendhaften Gläubigen)? Dies war eine Frage der Theologie und der Lebenswirklichkeit, ein Mittel der Abgrenzung und der Selbstvergewisserung. Die Hochtheologie hat sich weitestgehend gegen die Möglichkeit des Heils des Ungläubigen entschieden, mit wichtigen Ausnahmen, die hier ebenfalls zu untersuchen sind. Doch die Diskussion der als häretisch ausgegrenzten Antworten an den Rändern zeigt eine Kontroverse auf, die bis in die Gegenwart aktuell ist. In diesem Sinn soll diese Studie aus mediävistischer Sicht einen Beitrag zur gegenwärtigen Debatte um die Möglichkeiten der religiösen Toleranz leisten.